Corona-Demos: Warum ihr nicht das Volk seid

Eine Streitschrift

Wie wird man wohl in zehn oder zwanzig Jahren auf das Jahr 2020 zurückblicken? Die so genannte „zweite Welle“ mit hohen Infektionszahlen bestimmt aktuell unseren Alltag. Um die Pandemie einzudämmen, haben Bund und Länder Maßnahmen beschlossen, die wie schon im Frühjahr mit erheblichen Einschränkungen für das öffentliche und private Leben verbunden sind (Maskenpflicht, Hygienevorschriften, Quarantäneanordnungen, Besuchsbeschränkungen, Schließung von Hotels und Gaststätten, Theatern, Kinos …). Konzerte können nicht stattfinden, Weihnachtsmärkte und Karneval sind abgesagt. Hochzeiten, Beerdigungen und Kindtaufen dürfen nur mit wenigen Personen stattfinden. Großeltern trauen sich nicht, ihre Enkel zu besuchen und umgekehrt. Profifußball findet ohne Zuschauer statt, Gottesdienste ohne Singen. Für manche Betroffene wie z.B. Kulturschaffende oder Gastronomen ist dieser zweite Lockdown eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert die verordneten Maßnahmen, wenn auch unter Murren und Zähneknirschen. Es wird aber auch zunehmend Kritik laut. Die politisch Verantwortlichen müssen sich vorwerfen lassen, die Sommermonate ungenutzt gelassen zu haben, obwohl Fachleute die zweite Welle für den Herbst bereits im April/Mai prognostiziert hatten.

Nicht alle sind bereit, die Einschränkungen der persönlichen Freiheiten hinzunehmen. Es formiert sich Widerstand. Auf Demonstrationen, zu denen Organisationen wie „Querdenker711“ und andere Akteure aufrufen, trifft sich ein buntes Spektrum von Protestlern. Mit dem Schlachtruf „Wir sind das Volk“ inszenieren sie sich als Opfer einer angeblichen „Coronadiktatur“, die die Grundrechte und das Grundgesetz als Ganzes außer Kraft setzen will. Es fehlt an Vertrauen in die Politik, ebenso an eine unabhängige mediale Berichterstattung. Verschwörungsmythen, die es nicht erst seit der Pandemie gibt, verbreiten sich noch schneller als das Virus und werden, egal wie absurd sie auch sein mögen, unhinterfragt geglaubt. Überall werden finstere Mächte vermutet, die unser Leben mehr und mehr durchdringen und beherrschen. Man munkelt vom großen Bevölkerungsaustausch und vom „Deep State“, der im Hintergrund die Fäden zieht und die Coronakrise nutzt, um die Entmündigung der Bürger und die totale Kontrolle über unser Gemeinwesen voranzutreiben. Die Protestierer fühlen sich als „Widerständler“ und „Freiheitskämpfer“ gegen ein Unrechtsregime, vergleichen sich mit der Bürgerrechtsbewegung der DDR und instrumentalisieren Zeichen und Sprache der Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung oder des Widerstands gegen die Notstandsgesetze für ihre Zwecke.

Ich möchte hier einige der zentralen Aussagen, Haltungen und Attitüden der „Querdenker“ und ihrer Anhängerschaft unter die Lupe nehmen.

Wir sind das Volk? Nein, das seid ihr nicht. Ihr seid eine Minderheit, die sich bei Demonstrationen lautstark bemerkbar macht, aber ihr repräsentiert nicht das Volk – was auch immer ihr damit meint. Ihr seid Menschen, die aus unterschiedlichen Motiven und Beweggründen demonstrieren. Dass ihr das dürft, zeigt alleine schon, wie absurd eure Behauptung von der angeblichen Coronadiktatur ist. „Wir sind das Volk“ hatte bei der DDR-Bürgerrechtsbewegung 1989 seinen Platz. Der spätere Missbrauch durch Pegida bei den Montagsdemos in Dresden sollte Euch eigentlich Grund sein, diesen Schlachtruf nicht zu gebrauchen. Es sei denn, ihr fühlt Euch den Pegida-Anhängern geistig verbunden?

Toxische Allianzen

Ihr nehmt für euch in Anspruch, friedlich demonstrierende, um die Demokratie besorgte Bürgerinnen und Bürgern zu sein, die von Behörden und Polizei mit schikanösen Auflagen (Abstand, Maskenpflicht usw.) und „mit Waffengewalt“ am Demonstrieren gehindert werden.

Dass viele von euch besorgte Bürgerinnen und Bürger sind, soll hier nicht bestritten werden. Aber warum marschiert ihr im Schulterschluss mit Neonazis, Imfgegnern aus der Esoterikszene, fundamentalistischen Christen, militanten Tierschützer, Reichsbürgern, gewaltbereiten Wehrsportgruppen, Hooligans, AfD-Funktionären, völkischen Antisemiten, verschwörungsgläubigen Rechtspopulisten, weißen Supremisten und Vertretern der Neuen Rechten? Die Corona-Pandemie ist für die Neue Rechte willkommener Anlass, die angestrebte „kulturelle Hegemonie“ in Deutschland voranzutreiben. Dafür versuchen die verschiedenen Thinktanks, Publikationen, Vordenker der Neuen Rechten den politischen Diskurs mit ihren teilweise kruden, antisemitischen, demokratiefeindlichen Thesen zu dominieren. Und für diese Kräfte seid ihr willkommenes Instrument, um die angebliche Harmlosigkeit und Friedfertigkeit des Corona-Protests zu beweisen. Wo bleibt die Abgrenzung bei euren Demos von rechten Gruppierungen? Ist es nicht in Wahrheit so, dass ihr mehr gemeinsames als trennendes Gedankengut habt?

Lektüreempfehlung

Christian Fuchs / Paul Middelhoff: Das Netzwerk der neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern. Reinbek b. Hamburg 2019 (Rowohlt Verlag)

auch lesenswert: Neue Rechte – Rassismus – Diskursverschiebungen – Gewalt: Was passiert gerade in unserem Land und was bedeutet dies für die politische Bildung? Stellungnahme der Zentralen für politische Bildung


Querdenken 711 behauptet auf seiner Website: „Rechtsextremes, linksextremes, faschistisches, menschenverachtendes Gedankengut hat in unserer Bewegung keinen Platz. Gleiches gilt für jede Art von Gewalt.“ Gleichzeitig wird Ken Jebsen, einer der übelsten Hetzer und Verschwörungstheoretiker, mit seiner Seite KenFM prominiert auf der Seite platziert.

Friedliche Demonstrationen werden mit Polizeigewalt aufgelöst: Die Bilder scheinen Euch recht zu geben: Mit Wasserwerfern hat die Polizei am 18.11.2020 eure Demonstration am Brandenburger Tor aufgelöst (oder es zumindest versucht). Das wiederum dient euch als Beleg für die These, die Grundrechte seien längst außer Kraft gesetzt – quod erat demonstrandum. Dass Auflagen ignoriert wurden (Abstand, Maskenpflicht), dass aus der Demonstration heraus Gewaltaktionen erfolgten, dass AfD-Abgeordnete Störer in den Reichstag einschleusten, lasst ihr als Gründe für das Vorgehen der Polizei nicht gelten. Ihr nehmt für euch in Anspruch, euch über geltendes Recht hinwegzusetzen.

(Anmerkung J.L.: Dass ich einmal Polizeieinsätze gegen Demonstranten rechtfertige, habe ich mir auch nicht träumen lassen…)    

Ihr haltet Euch für aufrechte Widerstandskämpfer: Euer „Widerstandsgehabe“ ist geradezu peinlich. Es ist aber auch eine Verhöhnung von Menschen, die tatsächlich in einer Diktatur leben und die ihr Leben riskieren, wenn sie für ihre Forderungen auf die Straße gehen – siehe Belarus. Ihr schämt euch nicht einmal, euch in eine Reihe mit Menschen wie Dietrich Bonhoeffer, Sophie Scholl oder Martin Luther King zu stellen.

Um Demokratie und bürgerliche Freiheiten besorgte Bürger*innen? Ok, da können die meisten von uns sich anschließen. Tatsächlich ist Wachsamkeit gegenüber Macht- und Herrschaftsstrukturen geboten, auch solchen mit demokratischer Legitimation. Das System der Gewaltenteilung und die Kontrolle der Regierung durch das Parlament, wie wir es in Deutschland haben – eine Lehre aus dem NS-Regime – funktioniert – wenn auch nicht ohne Konflikte und Brüche.

„Ermächtigungsgesetz“ vom Bundestag beschlossen: Die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag am vergangenen Mittwoch habt Ihr mit dem Ermächtigungsgesetz Hitlers von 1933 verglichen. Abgesehen von diesem unsäglichen und dümmlichen historischen Vergleich: Warum sollte der Bundestag ein Gesetz beschließen, das ihn entmachtet? Ja, es gibt berechtigte Kritik sowohl am Inhalt als auch am Verfahren. Wenn ihr Euch die Mühe machen würdet, die Bundestagsdebatte vom 18.11.2020 dazu anzuhören, dann würdet ihr vielleicht zu einem differenzierten Urteil kommen, aber Komplexität und differenziertes Argumentieren ist nicht eure Sache, oder? Der FDP-Abgeordnete Marco Buschmann sagte z.B. in der Debatte: „Das Gesetz, das die GroKo vorlegt, ist schlecht, aber es errichtet keine Diktatur!“

Lügenpresse? Ihr schreit es hinaus und glaubt es wohl auch: Es gibt keine freie Medienberichterstattung in Deutschland. Die Presse ist gleichgeschaltet, es gibt ein Schweigekartell in den „Mainstreammedien“. Bilder und Berichte, die nicht ins „westliche Narrativ“ passen, werden nicht gebracht. Mit Verlaub und in Kurzversion: Das ist Bullshit. Wer es genauer wissen will, den verweise ich auf meinen ausführlichen Blogbeitrag vom 22.08.2020: „Lügenpresse“ oder: Wie (un)abhängig sind unsere Medien?“. Über das Buch von Thor Kunkel: Das Wörterbuch der Lügenpresse, erschienen im Kopp-Verlag (in dem auch Eva Herman publiziert) schreibt Hagen Eichberger auf der Internetseite des Arcadi-Magazins (sic): „Medien quellen über von Worthülsen, Begriffsumdeutungen, halbwahren Flos­keln, wohlfeilen Mustersätzen, linguisti­schen Simplifizierungen, Kampfbegriffen und ewig gleichen linkspädagogischen Argumentationsmustern, die das Den­ken der Menschen normieren, ja aus­schalten sollen. (Hervorhebung J.L.)

Meine abschließende Bitte an alle, die das Denken durch den Konsum der gleichgeschalteten Mainstreammedien oder Chemtrails noch nicht ausgeschaltet haben: Lasst euch nicht hinter die Fichte führen!!!