Corona: Alles nur Theater

Warnhinweis: Der folgende Beitrag enthält Spuren von Satire und Gewaltphantasien und ist für junge Menschen unter 65 Jahren nicht geeignet!

 Dritter (und letzter) Akt, fünfte Szene:

Ein Ehepaar mittleren Alters, seit langem verheiratet, mit Hund, im Wohnzimmer, liberal-intellektuelles Milieu, Designermöbel, im Hintergrund läuft der Fernseher, stummgeschaltet, mit einem ZDF-Spezial zur Coronakrise

Er: Corona, Corona, ich krieg echt den Corona-Koller!

Sie: Versuch´s mal mit Fensterputzen.

Er: Da bin ich intellektuell unterfordert.

Sie: Dann vielleicht die Bücher im Regal abstauben?

Er: Nicht mal häusliche Gewalt kriegen wir zur Abwechslung hin.

Sie (wirft einen Küchenschwamm nach ihm, verfehlt ihn knapp): Besser?

Er: Du bist sowas von aggressionsgehemmt! Wofür steht eigentlich der Küchenschwamm symbolisch bei C.G. Jung?

Sie: Arschloch.

Er: Schon besser.

(Der Hund kotzt auf den Wohnzimmerteppich)

Frage an die Regie: kriegt ihr das hin?

Sie: Das Tier ist einfach hochsensibel.

Er: Das bin ich auch. Äußerst sich bei mir bloß anders.

Sie: Warum nutzt du nicht die Zeit, endlich das Buch zu schreiben, wovon Du schon seit Jahren redest?

Er: Du wirst lachen: Ich bin dran!

Sie: Ein Roman – echt jetzt?

Er: Nein. Ein Sachbuch. Das geht schneller und verkauft sich besser.

Sie: Darf man erfahren, worüber?

Er: Den Titel habe ich schon.

Sie: Da bin ich jetzt aber neugierig.

Er: Corona – So kann der Bevölkerungsaustausch gelingen.

Sie (entgeistert): Wer soll denn so einen Bullshit verlegen?

Er: Der Verlag Antaios von Götz Kubitschek ist interessiert. Und von wegen Bullshit: Es gibt schon längst einen Impfstoff gegen Corona, aber die Bundesregierung will nur Moslems damit impfen lassen.

Sie: Hä? Und wieso erfährt man davon nichts?

Er: Weil die Mainstreammedien darüber nicht berichten (weist auf den Fernseher). Die verarschen uns doch nur. Und Leute wie du merken natürlich nichts.

Sie (wirft wütend ein Brotmesser nach ihm, trifft ihn mitten ins Herz)

Er (sinkt um, greift sich an die blutende Brust, starrt ungläubig auf das Blut in seiner Hand, haucht seinen letzten Atemzug): Das mit aggressionsgehemmt nehme ich zurück

(oder alternativ, je nach Spielstätte und Publikum): Ich dachte, Tomatensoße wäre ausverkauft…

(Vorhang)


Nach Corona: Hoffnung auf eine bessere Normalität?

Der Höhepunkt der Krise ist noch nicht erreicht, die Kurve der Infizierten wird noch nicht flacher. Zudem zeigt sie ja nur die getesteten Infizierten, also die Spitze des Eisbergs. Experten sagen uns, dass die gemeldeten Zahlen mehrere Tage hinter der Realität hinterherhinken. Das einzig Erfreuliche ist, dass die Todesrate in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern nach wie vor sehr niedrig ist. Noch. Damit das so bleibt, halten wir uns an das „Wir bleiben zu Hause“. Das ist nicht nur behördliche Anweisung, sondern auch mediale Botschaft auf allen Kanälen. Wohnungslose sind in diesem Fall mal ausnahmsweise privilegiert.

Wir wollen unbedingt wissen, wann es vorbei ist. Mit der Ungewissheit, wie lange es noch dauert, können wir nur schwer umgehen. Welche Koinzidenz wäre es, wenn just an Ostern, wenn Christen die Auferstehung des Erlösers feiern, die erlösende Nachricht käme, dass es bergauf, also mit der Anzahl der Infizierten bergab geht? Donald Trump hat erklärt, er wolle die USA bis Ostern wieder öffnen. Ausgerechnet ihm will man nun wirklich nicht die Rolle des Erlösers zubilligen.

Soll man jetzt überhaupt schon über die Zeit nach Corona spekulieren, wenn die Zukunft ungewiss ist und eine Rückkehr zur Normalität nicht absehbar? Wie wird die Rückkehr zur Normalität sein, wenn es denn überhaupt eine Normalität nach Corona geben wird? Bernd Ulrich hofft in seinem kürzlichen Essay über das „heruntergebremste Land“ in der ZEIT (Nr. 13/2020) auf eine „neue Normalität“, die eine bessere sein könnte, wenn „all die systemrelevanten, zumeist unterbezahlten Menschen, die Kassiererinnen und die Pfleger, die Polizisten und die Erzieherinnen, sagen: Wir müssen reden, Leute, so was machen wir nicht noch mal mit, nicht für das bisschen Geld und nicht für so wenig Wertschätzung wie vorher.“

Wer wünschte nicht, dass Ulrich mit seiner Prognose recht hätte. Es ist ja nur eine Hoffnung, eine Utopie sogar. Wahrscheinlicher scheint mir, dass sich sehr schnell die alten Gewohnheiten, Rituale und Gesetzmäßigkeiten, die unser Zusammenleben bestimmen, wieder breitmachen werden. Es ist noch nicht lange her, da waren viele, die jetzt als Heldinnen und Helden des Alltags gefeiert werden, weil sie für das Funktionieren unseres Gemeinwesens sorgen, die Kassiererinnen im Supermarkt, die Busfahrer und Altenpfleger, die Polizisten und Feuerwehrleute, die Rettungssanitäter und Krankenpfleger, zunehmend Opfer von Beschimpfung und Beleidigung, Aggression und Gewalt – mal ganz abgesehen von der schlechten Bezahlung. Bespuckt zu werden – physisch oder mit Worten – gehörte schon zum Berufsrisiko. Dass viele an ihrem Arbeitsplatz jetzt aus ganz anderen Gründen mit einem „Spuckschutz“ ausgestattet sind, bietet sich für metaphorische Betrachtungen an.

Was wir jetzt lernen: Es gibt Menschen, die sind „systemrelevant“, und solche, die es nicht sind. Erstere müssen wir gut behandeln, damit sie nicht auch zuhause bleiben. Und für alle, die nicht systemrelevant sind – etwa Kulturschaffende, Wohnungslose, Hartz-4-Bezieher, Rentner, Unternehmensberater, Tätowierer, Immobilienmakler, Tanzschulenbetreiber, Youtuber – gilt die Devise: Hinten anstellen. Wer über Siebzig ist, kommt sowieso auf die Warteliste. Wenn die Intensivbetten knapp werden sollten, dann muss triagiert werden. Notfallmediziner kennen und fürchten das: Sie müssen aussortieren, weil nicht alle gleichzeitig behandelt werden können. Wer die besten Überlebenschancen hat, kommt zuerst dran. Wird man also bei begrenzter Behandlungskapazität konsequenterweise denen den Vorzug geben müssen, die systemrelevant sind? Hoffen wir, dass es vorbei ist, bevor es dazu kommt. Und dass die Normalität danach zumindest keine schlechtere als vorher sein wird.


Keine Ausgangssperre für den Klimawandel

Wozu die Politik fähig ist, wenn es wirklich ernst wird, sehen wir in diesen Tagen. Warum ist das beim Klimawandel bisher nicht möglich? Was notwendig wäre, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels noch abzuwenden und die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, ist bekannt. Was die Bundesregierung mit ihrem sogenannten Klimapaket vom September 2019 beschlossen hat, ist lächerlich wenig und nicht geeignet, die Versprechen einzulösen, die Deutschland beim UN-Klimagipfel von Paris 2015 gemacht hat. Deshalb müssen wir selbst aktiv werden und den Druck auf die Politik erhöhen. „Fridays for Future“ hat uns gezeigt, wie das gehen kann. Den Slogan der Jugend: „Wir sind jung, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“ können wir ja altersgemäß abwandeln: „Wir sind alt, wir sind leise, wir finden Klimawandel auch nicht so gut“.

Im Ernst: Die Lobbyarbeit zugunsten einer besseren Klimaschutzpolitik muss weitergehen und darf wegen Corona jetzt nicht nachlassen. Dafür bieten sich die Bundestagswahlen im nächsten Jahr an. Die Kampagne „GermanZero“ hat es sich zum Ziel gesetzt, einen Klimaplan und die notwendigen Gesetzesentwürfe zu erarbeiten: „Tausende von Bürgerinnen und Bürgern sollen mit diesem Gesetz unsere Demokratie von unten beleben und das Paket 2022 in den Bundestag einbringen.“ Mehr zu GermanZero und den Zielen findet Ihr hier. Die Zeit, die uns bleibt, um die Wahlen im Sinne einer wirksamen Klimapolitik zu beeinflussen, ist nicht unbegrenzt; wenn die Wahlen erst einmal gelaufen und die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind, ist es zu spät.

Aus einem Vortrag von H. Stößenreuther, Vorstand GermanZero e.V., am 15.02.2020 in Freiburg

Deshalb lade ich dazu ein, diese Kampagne zu unterstützen. Auf der Website von GermanZero kann man sich zum Mitmachen eintragen und auch dafür spenden. Und wenn Ihr noch nicht überzeugt seid, dann schaut Euch mal dieses Video (3 Min.) an.

Wenn uns Corona schon zwingt, untätig zuhause rumzusitzen und unsere sozialen Aktivitäten einzuschränken, dann können wir trotzdem auf diesem Wege politisch aktiv werden!


Wertpapiere in Zeiten der Coronakrise

Dem Dax geht es derzeit nicht so gut. Um 40 Prozent ist er in den letzten vier Wochen auf jetzt unter 8.500 Punkte abgestürzt, und das scheint noch nicht das Ende zu sein. Die Deutsche Bank steht aktuell bei 5,12 Euro. Dafür bekäme man im Supermarkt eine Packung Klopapier von der besseren Sorte, vierlagig & supersanft. Tatsächlich sind die weißen Rollen derzeit begehrter als die Deutsche-Bank-Aktie und immer wieder mal ausverkauft. Der Begriff „Wertpapier“ bekommt dank Corona eine völlig neue Bedeutung.

Was tun? Deutsche-Bank-Aktien kaufen oder Klopapier? Klopapier wird jedenfalls gehamstert, mehr noch als Nudeln und Reis. Also sind wird doch eher anal fixiert als oral? Hier tut sich ein neues Forschungsfeld für Psychologen auf.


Meine Empfehlung: Die Entdeckung der Fliehkraft von Kai Weyand

Mein Nachbar Kai Weyand, dessen schriftstellerisches Talent mehr Aufmehrsamkeit verdient hätte, hat mit seinem neuen Roman „Die Entdeckung der Fliehkraft“ (noch) nicht den erhofften Erfolg erzielt. Wir alle können jetzt dabei helfen: Beim SWR1 gibt es eine Abstimmung, bei der man unter drei vorgeschlagenen Romanen seinen Favoriten wählen kann. Bitte geht auf diesen Link und stimmt für Kai ab! Ich kann das Buch auch wirklich zur Lektüre empfehlen.


Betrachtungen zur Coronakrise

Heute (13. März 2020) ist vielleicht der Tag, an dem die Coronakrise – nennen wir sie mal so – in ihrer vollen Wucht den Alltag und die Nachrichten beherrscht. Die Auswirkungen sind inzwischen in fast allen Lebensbereichen spürbar. Das öffentliche Leben kommt mehr und mehr zum Stillstand, ab nächste Woche werden in fast allen Bundesländern die Schulen geschlossen. Menschen schränken ihre privaten Kontakte ein und legen sich Notvorräte an Lebensmitteln zu. Ein Ende ist nicht abzusehen. Niemand weiß, wie die weitere Entwicklung sein wird und wie lange wir noch mit den jetzt schon wirksamen Einschränkungen leben müssen. Die Zahl der Infizierten und Toten steigt weiter an. Heute (13. März, 19 Uhr) meldet Deutschland 3.156 Infizierte und acht Tote (Aktuelle Zahlen Deutschland und weltweit gibt es hier oder hier.

Von einer „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ ist die Rede, „Stresstest für die Bundesrepublik“ (Robert-Koch-Institut), usw. Ja, viele Auswirkungen sind schlimm, manche Beschränkungen treffen die Menschen hart. Kinder können ihre betagten Eltern im Pflegeheim nicht besuchen. Über 65jährige dürfen den ÖPNV nicht mehr benutzen, wie z.B. in der Schweiz. Grenzen werden geschlossen, Intensivstationen und Arztpraxen stehen vor dem Kollaps, die Wirtschaft erlebt drastische Umsatzeinbußen. Die Aktienkurse befinden sich auf rasanter Talfahrt. Die Verschwörungstheoretiker können eine neue Sau durch ihre Internetseiten treiben (Bill Gates steckt dahinter, und natürlich wieder die Pharmaindustrie).

Aber mal ernsthaft: Wenn Vieles zum Stillstand kommt, ergeben sich nicht auch plötzlich neue Chancen? Abstand nehmen von Gewohntem, Tempo rausnehmen, das Unvermeidbare akzeptieren. Eine zweiwöchige häusliche Quarantäne: endlich mal wieder Zeit zum Lesen! (Thematisch würde sich das Buch von Hartmut Rosa „Unverfügbarkeit“ anbieten). Bundesliga ohne Zuschauer, Spielbetrieb ganz abgesagt: na und? Keine Krawalle mehr, die Polizei kann Überstunden abbauen. Veranstaltung ausgefallen: bringt zusätzliche Zeit für Sinnvolles. Schule geschlossen: Kinder und Lehrer dürfen sich freuen. Eltern vielleicht weniger, es sei denn, sie können es genießen, mal wieder mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Aktienkurse im Keller: dann wird der Aufschwung umso schöner werden. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Will sagen: Vielleicht lernen wir gerade ganz neu, auf was man alles verzichten kann, ohne dass gleich die Welt untergeht.

Ich ahne den Widerspruch: Der alter Zausel, bei dem das „Best before“-Datum schon überschritten ist, hat gut reden. Er muss nicht morgens zur Arbeit, kriegt weiter seine Rente, kann es sich zuhause gemütlich machen und seine Gedanken über die schlimmste Krise seit – ja seit wann eigentlich? –  unwidersprochen in den Äther pusten. Auf Kommentare zu diesem Beitrag bin ich gespannt.


Steinmeier: Kommunalpolitiker sind nicht die Fußabtreter der Frustrierten

„Wir dürfen nicht zulassen, dass Kommunalpolitikerinnen und -politiker in unserem Land zu Fußabtretern der Frustrierten werden. Wir brauchen all die Menschen, die bereit sind, Verantwortung vor Ort zu tragen.“ Das hat Bundespräsident Steinmeier gestern in Zwickau bei der Veranstaltung „Gemeinsam gegen Hass und Gewalt – Kommunalpolitiker nicht allein lassen!“ in einer beachtenswerten Rede gesagt (den vollen Wortlaut der Rede kann man hier nachlesen).

Die Veranstaltung hat sich mit den zunehmenden Anfeindungen, mit Hetze, Hass und Gewalt gegen Kommunalpolitiker beschäftigt. Der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, der Messerangriff auf den Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, Brandanschläge auf Büros und Autos von AfD-Politikern – das sind nur die schlimmsten Auswüchse. Massive Beleidigungen in den Sozialen Medien, Morddrohungen, Einschüchterungsversuche – das erfahren vor allem Politiker, die im Rampenlicht stehen und die sich für eine humane Flüchtlingspolitik engagieren.

Kommunalpolitiker in Wittnau und in der Region sind von solchen schlimmen Auswüchsen bisher verschont geblieben – jedenfalls, soweit dies öffentlich bekannt ist. Es gibt aber unterhalb der Schwelle von Herabwürdigung, Verunglimpfung, Beschimpfung, Hetze und Beleidigung oder gar Gewaltandrohung verbale Angriffe, die man nicht mehr als freie Meinungsäußerung oder sachliche Kritik rechtfertigen kann. Als Kommunalpolitiker muss man aushalten, für sein Tun kritisiert zu werden. Allzu empfindlich sollte man da nicht sein. Aber wenn statt Wertschätzung für das ehrenamtliche Engagement nur Geringschätzung und persönlich diffamierende Kritik laut wird, dann ist die Schwelle des Anstands schnell überschritten.

Der Bundespräsident hat in Zwickau eine breite Allianz aller gesellschaftlichen Kräfte gefordert, um gemeinsam gegen Hass und Gewalt die politische Kultur und Demokratie zu verteidigen. Dieser Appell ist an uns alle gerichtet.


Satzzeichen retten Leben

Schöner kann man nicht erklären, warum es eben nicht völlig Wurschd ist, wo das Komma steht oder vergessen wurde…


Wir schaffen das – Wittnau und seine Flüchtlinge

„Wir setzen uns dafür ein, die Flüchtlinge in unserer Gemeinde willkommen zu heißen und ihnen die notwendige Unterstützung und Hilfe bei der Integration und Alltagsbewältigung zu gewähren“ – so der Wortlaut eines Beschlusses des Wittnauer Gemeinderats vom Oktober 2013, zu einem Zeitpunkt, wo das Ausmaß der Fluchtbewegung nach Deutschland und damit auch in unserer kleinen Gemeinde noch gar nicht absehbar war. Wenige Monate später setzte dann mit dem massiven bundesweiten Anstieg der Flüchtlingszahlen und dem umstrittenen „Wir schaffen das“-Zitat der Kanzlerin eine bis heute andauernde, kontroverse gesellschaftliche Debatte um den richtigen Umgang mit der Flüchtlingsproblematik ein. Davon ist auch Wittnau nicht verschont geblieben.
Nehmen wir mal an, der Gemeinderat hat in seinem Beschluss mit „Wir“ uns alle gemeint: Verwaltung, politische Entscheidungsträger, Zivilgesellschaft, Vereine, Nachbarn. Was ist aus dieser Absichtserklärung geworden? Haben wir es geschafft? Für eine abschließende Bilanz mag es noch zu früh sein. Trotzdem kann mit einem gewissen Stolz gesagt werden, dass Wittnau die Herausforderungen gut bewältigt hat. Dazu haben viele Menschen beigetragen.
Wenn es ein erstes positives Fazit aus den vergangenen Jahren gibt, dann vielleicht dieses: Offene fremdenfeindliche Äußerungen und Aktionen sind im Dorf glücklicherweise bisher ausgeblieben, rechtsradikale Strömungen nicht erkennbar. Die AfD erreichte in Wittnau bei den letzten Kreistags- und Europawahlen vier Prozent der Stimmen. Angesichts der Entwicklungen in anderen Regionen der Republik ist das eher beruhigend.
Zunächst zu den Zahlen: 2014 wurden der Gemeinde Wittnau die ersten fünf Flüchtlinge vom Landkreis zugewiesen – zur Anschlussunterbringung, wie es im nüchternen Bürokraten-deutsch hieß. 2015 waren es dann zehn, 2016 dreizehn neue Zuweisungen. Ursprünglich hatte das Landratsamt für 2016 sogar 21 neue Flüchtlinge für Wittnau angekündigt. Im Sommer 2018 war mit 32 in Wittnau lebenden Geflohenen ein Höchststand erreicht. Von 2014 bis heute (Februar 2020) haben insgesamt 48 geflohene Menschen in unserer Gemeinde vorübergehend oder für länger eine neue Heimat gefunden. Dazu zählen auch sechs Neugeborene. Aktuell leben noch 22 Geflohene in Wittnau, davon 14 in von der Gemeinde angemieteten Wohnungen oder bereitgestellten Unterkünften.
Die Verteilung der Flüchtlinge im Landkreis auf die einzelnen Kommunen war von Anfang an von großen Unsicherheiten und ständig wechselnden Zahlen geprägt. 2016 musste Wittnau aufgrund der Ankündigungen aus dem Landratsamt mit bis zu 50 unterzubringenden Flüchtlingen rechnen. Später wurden die Zuteilungsquoten nach unten korrigiert, ohne dass aber für die Gemeinde eine verlässliche Planungsgrundlage gegeben war. Die Folge war, dass der Gemeinderat sich immer wieder neu mit der Frage befassen musste, wie die dauerhafte Unter-bringungen der Flüchtlinge gelöst werden soll. Bauen oder nicht bauen? Wenn ja, wie groß und wo? Nur eine provisorische, vorübergehende Gemeinschaftsunterkunft oder eine lang-fristige Lösung? Zum Glück fanden sich mehrere private Vermieter in Wittnau bereit, Wohnungen für die Unterbringung von Flüchtlingen an die Gemeinde zu vermieten. Das ver-schaffte der Gemeinde Luft, wenn auch in der Regel nur für eine begrenzte Zeit.
Das Thema „Unterbringung von Flüchtlingen“ war spätestens ab 2015 nahezu bei jeder Sitzung des Gemeindesrats auf der Tagesordnung. Dass es keine verlässlichen Zahlen aus dem Landratsamt gab, machte die Diskussion um eine angemessene Lösung zu einem Lotteriespiel. Worauf sollte man setzen? Verschiedene Optionen wurden diskutiert, abgewogen, ver-worfen, erneut ins Spiel gebracht: Aufstellung von Wohncontainern, Umbau des Vereinshauses oder Teilen davon zu Wohnzwecken, Bau eines Wohnhauses auf dem Spielplatz Birkwäldele, Umbau des Untergeschosses im Pfarrgemeindehaus zu Flüchtlingswohnungen, Bau einer Gemeinschaftsunterkunft auf einem noch auszuwählenden Standort.
Nicht vor meiner Haustür? Apropos Standort: Die Diskussion um die geeignete Form der Unterbringung und einen möglichen Standort für eine Baumaßnahme erwies sich als heikel, zäh und kontrovers: Wo immer eine Option ins Gespräch gebracht wurde, formierte sich geradezu reflexartig der Bürgerprotest. Schon im April 2012 protestierten Wittnauer Vereine gegen die geplante Unterbringung von Flüchtlingen im Dreschschopf. Im gleichen Jahr wandten sich Anlieger in einem Schreiben an den Gemeinderat gegen die in Erwägung gezogene Aufstellung von Wohncontainern für Obdachlose und Bedürftige an der Ecke Engelmatte – Brückenstraße. Im April 2015 artikulierte sich heftiger Protest des Verkehrs- und Trachtenvereins gegen den Vorschlag, Vereinsräume für die Unterbringung von Flüchtlingen umzunutzen.
Weiterer Unmut machte sich breit, als im Oktober 2015 der Gemeinderat prüfen wollten, ob der Spielplatz Birkwäldele mit einem Wohnhaus für Flüchtlinge bebaut werden könnte. Eine Versammlung von 45 Anwohnern sprach sich mehrheitlich gegen diesen Plan aus und forderte den Gemeinderat auf, davon Abstand zu nehmen. Der Spielplatz, so hieß es, sei unverzichtbar und werde gut frequentiert.
Ab dem Frühjahr 2016 nahm die Diskussion erneut Fahrt auf, weil der Gemeinderat die Entscheidung für eine Baumaßnahme zunehmend dringlich sah und im Oktober 2016, nach kon-troverser Diskussion, für einen Standort unterhalb des Vereinshauses votierte. Dagegen wandten sich zahlreiche Bürger, insbesondere Anlieger aus der näheren Umgebung, in einzelnen Schreiben und Mails und mittels Unterschriftenlisten. Ihren Höhepunkt erreichte die – teilweise sehr emotional und polemisch geführte – Diskussion dann im Herbst 2017, als es erneut um die angemessene Lösung für die Flüchtlingsunterbringung ging. Die Kontroverse um den pas-senden Standort für ein Wohngebäude und die Errichtung von Wohncontainern auf einer Spielfläche neben den Sportanlagen nahmen Bürger zum Anlass, eine „Wittnauer Initiative für den Erhalt der Spiel- und Freizeitflächen“ zu gründen und gegen die Planungen des Gemeinderats Lobbyarbeit zu machen. Der Gemeinderat, so die Argumentation der Initiative und einzelner Bürger, würde ohne Not Spielflächen der Kinder und Jugendlichen opfern, anstatt andere geeignete Flächen zu wählen. Die Vorwürfe gipfelten in der Aussage, die Entscheidun-gen des Gemeinderates seien von mangelnder Transparenz, Vortäuschung von Objektivität und „Pseudo-Fakten“ geprägt.
Inzwischen hat sich die Lage beruhigt, weil die Entscheidung, ob und falls ja wo Wohnungen für Flüchtlinge gebaut werden sollten, zunächst zurückgestellt ist. Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesem Kapitel Wittnauer Flüchtlingspolitik ziehen? Die Proteste waren immer begleitet von dem Mantra: Auch wir wollen, dass die Flüchtlinge angemessen untergebracht werden. Aber bitte nicht an dieser Stelle, nicht in dieser Form, nicht in dieser Konzentration. Nicht neben der Schule – Gefährdung der Kinder – nicht auf Spielflächen, die fehlen dann unseren Kindern, nicht auf Kosten der Vereine, nicht zu Lasten des Haushalts der Kommune, usw. Als ob die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge zum Nulltarif zu haben wäre! Von wirklichen Einschränkungen der allgemeinen Lebensqualität in Wittnau konnte zu keinem Zeitpunkt die Rede sein.
Der ehrenamtliche Helferkreis: Wittnau gehörte zu den Gemeinden, die schon sehr früh einen ehrenamtlichen Helferkreis hatten. Erste Überlegungen und Kontakte dazu gab es bereits im Januar 2013. Am 9. Mai 2014 traf sich dann erstmals ein kleiner Kreis von interessierten Bürgerinnen und Bürgern und vereinbarte die Gründung eines „Asylhelferkreises“ – später umbenannt in „Arbeitskreis Flüchtlinge Wittnau“. Man hatte sich bewusst gegen eine feste, vereinsähnliche Struktur entschieden. Der Arbeitskreis besteht nun seit fast sechs Jah-ren. Viele Ehrenamtliche haben sich in dieser Zeit auf unterschiedliche Weise eingebracht: Übernahme von Patenschaften für einzelne Flüchtlinge oder Flüchtlingsfamilien, Deutschunterricht, Hilfe bei Behördenkontakten, Organisation von gemeinsamen Aktivitäten, Unterstützung bei Wohnungs- und Arbeitssuche, usw. Von zeitweise bis zu zwanzig Ehrenamtlichen ist heute ein „harter Kern“ von sechs bis acht Personen geblieben, die den Helferkreis am Leben erhalten. Und seit die Gemeindeverwaltung eine Integrationsbeauftragte beschäftigt, zu deren Aufgabenbereich die Flüchtlingsbetreuung gehört, hat sich die Zusammenarbeit zwischen Gemeinde und Helferkreis deutlich verbessert. Als nicht praxistauglich erwiesen hat sich die Idee, einen Integrationsbeirat zu etablieren, eine Art runder Tisch, in dem ein „Austausch und Dialog aller gesellschaftlichen Gruppierungen und Institutionen in Wittnau stattfindet mit dem Ziel, die Aufnahme, Integration und Unterbringung von Flüchtlingen als allgemeine Aufgabe wahrzunehmen und zu fördern“ – nach einem Jahr und fünf Sitzungen wurde das Gremium stillschweigend beendet.
In guter Erinnerung geblieben sind die vielen gemeinsamen Aktivitäten und Veranstaltungen, die der Helferkreis organisierte: Zwei Benefizkonzerte im November 2014 im Gallushaus mit Wittnauer Künstlerinnen und Künstlern und im November 2016 in der Wittnauer Pfarrkirche, die als „Café der Begegnung“ im Pfarrgemeindehaus veranstalteten Nachmittage, gemeinsames Kochen, Grill- und Sommerfeste mit Flüchtlingen und Bürgern und – unvergessen – das Internationale Kulturfest im Gallushaus: Ein tolles Fest mit einem abwechslungsreichen und interessanten Programm – so und ähnlich waren die Rückmeldungen der Besucherinnen und Besucher, die am 9. September 2017 zum Kulturfest des AK Flüchtlinge gekommen waren.
Gelungene Integration: Wie zu Anfang anhand der zahlenmäßigen Entwicklung gezeigt wurde, leben derzeit noch 22 Flüchtlinge in Wittnau, davon 14 in Wohnungen und Unterkünften, die von der Gemeinde bereitgestellt werden. Die meisten Menschen, die als Flüchtlinge kamen und die anfangs auf Sozialhilfe und auf ein Dach über dem Kopf angewiesen waren, können inzwischen ein eigenständiges Leben führen. Sie haben Schulen besucht, Deutsch gelernt, eine Ausbildung begonnen, Arbeit und Wohnung gefunden. Oft waren im Hintergrund Ehrenamtliche des Arbeitskreises Flüchtlinge dabei behilflich und haben vermittelt, beraten, getröstet, wenn es nicht auf Anhieb geklappt hat, auch schon mal mit Geld oder Sachspenden geholfen. Engagierte, aufgeschlossene Bürger in den Vereinen, als Vermieter, Eltern von Schulkindern haben dazu beigetragen, dass die Flüchtlinge sich in Wittnau willkommen fühlen konnten. Einige Flüchtlinge haben den Sprung in die Unabhängigkeit auch ohne fremde Hilfe geschafft. Ob diese Menschen dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen, wird vom Gesetzgeber und von den zuständigen übergeordneten Behörden wie dem BAMF entschieden. Nicht alle haben einen Aufenthaltsstatus, der ihnen Gewissheit über ihre Zukunft in Deutschland gibt. Man kann sich unschwer vorstellen, wie sehr diese Ungewissheit belasten kann.
Die vielen erfreulichen Beispiele von gelungener Integration können nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alle Geflohenen es geschafft haben, ihr Leben in Deutschland selbstständig und wirtschaftlich gesichert zu gestalten. Sprachschwierigkeiten, Krankheiten, psychische Probleme, fehlendes Durchhaltevermögen bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz – immer wieder scheitern Flüchtlinge an den normalen Anforderungen, die der Lebensalltag mit sich bringt. Dabei ist im Einzelfall schwer zu sagen, ob die Erfahrung von Flucht und Vertreibung ursächlich für mangelnde psychische oder physische Belastbarkeit ist. Es gibt ja auch zunehmend Menschen ohne Migrationshintergrund und Fluchterfahrung, die an den Alltagsanforderungen von Beruf, Familie, usw. scheitern und psychisch erkranken. Und auch das gehört zur Realität: Flüchtlinge, die wenig oder keine Motivation zeigen, von den Transferleistungen, die der deutsche Sozialstaat bietet, unabhängig zu werden.
Damit sind wir mitten in der gesellschaftlichen Debatte darüber, wie sehr wir bereit sind, die Lasten mitzutragen, die durch die Aufnahme von Geflüchteten in unser Gemeinwesen zwangsläufig entstehen. Die Verantwortung dafür, auch die finanzielle, liegt natürlich zunächst beim Bund und bei den Ländern und darf nicht auf die finanzschwachen Kommunen abgeschoben werden. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass die Hauptlast für eine gelingende Integration bei den Kommunen liegt. Sie sind es, die für angemessene Wohnungen, Bereitstel-lung von Plätzen in Kita und Schule, und wo nötig für soziale und psychische Beratung und Hilfe sorgen müssen. Man muss nach den Erfahrungen davon ausgehen, dass ein gewisser Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund von der Solidargemeinschaft mitgetragen werden muss.
Die Flüchtlingszahlen sind, was Deutschland anbetrifft, rückläufig. Nicht etwa, weil es weniger Flüchtlinge gäbe. Die täglichen Nachrichten aus Syrien, aus der Türkei, aus Griechenland zeigen, wie dramatisch die Lage der Flüchtlinge an den Grenzen Europas ist. Die komplette Abschottung der EU gegen eine weitere Zuwanderung von Bürgerkriegs- und Klimaflücht-lingen ist ethisch fragwürdig und politisch auf Dauer kaum durchzuhalten. Auf eine humane europäische Einwanderungspolitik wird man wohl noch lange warten müssen. Deutschland nimmt weiterhin Flüchtlinge auf, wenn auch viel weniger als noch 2015 und 2016. Für Wittnau bedeutet das, dass auch weiterhin die Zusage Bestand haben sollte: „Wir setzen uns dafür ein, die Flüchtlinge in unserer Gemeinde willkommen zu heißen und ihnen die notwendige Unterstützung und Hilfe bei der Integration und Alltagsbewältigung zu gewähren“.

Jürgen Lieser Februar 2020