Ich. Literat von Weltrang.

Mit Bescheidenheit kommt man in der Welt nicht weiter. Man darf das, was man kann, nicht verstecken. Das sagte kürzlich der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Leider kommt diese Erkenntnis für mich mehr als 50 Jahre zu spät. Dabei hätte ich es wissen können. Schon in der Bibel heißt es, man zündet „auch nicht ein Licht an und stülpe ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter, dann leuchtet es allen im Haus“ (Matthäus 5:14). Ich wage also heute mein Coming Out, lüfte den Scheffel, der über mein Licht gestülpt ist, und bekenne leicht errötend: Ich wäre gerne ein erfolgreicher Buchautor. Ein ob seiner Bescheidenheit geschätzter, aber sprachgewaltiger und hochintellektueller Autor, mit zahlreichen Literaturpreisen bedacht, vielen Interviewanfragen, Besprechungen im Feuilleton von ZEIT und Süddeutscher Zeitung, gern gesehener Gast in Talkrunden und auf der Frankfurter Buchmesse. Ich sehe mich schon nominiert für den Deutschen Buchpreis. Oder vielleicht doch gleich für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels? Danach käme dann quasi schon der Literaturnobelpreis.

Mir ist schon klar, dass ich, um dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, mal mit dem Schreiben anfangen müsste. Und zwar nicht nur ein Buch, sondern mehrere. Mit nur einem Buch ist es in den wenigsten Fällen getan. Manche landen allerdings gleich mit dem Erstlingswerk einen Riesenerfolg. Ich muss also unbedingt mit dem ersten Buch anfangen. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es kaum jemanden, der oder die kein Buch geschrieben hätte. Manche sogar mehrere. Wenn wir uns treffen, frage ich: Was macht Dein neues Buch? Wie weit bist Du? In jeder noch so belanglosen Gesprächsrunde im Fernsehen werden die Leute vorgestellt, indem man sagt, der Herr X oder die Frau Y hat dazu auch ein Buch geschrieben. Vermutlich werde ich deshalb nicht zu Talkshows im Fernsehen eingeladen. Meine Vorstellung in der Runde wäre peinlich. Unser heutiger Gast, Herr L., hat zu dem Thema, um das es heute geht, kein Buch geschrieben. 

Es ist allerdings nicht so, als hätte ich noch gar kein Buch geschrieben. Doch, doch. Drei sogar. Zwei Sachbücher, eine Geschichte Boliviens, und als Herausgeber ein Handbuch über Humanitäre Hilfe. Und, nicht zu vergessen, noch ein bescheidenes Bändchen mit einer Mischung aus literarischen und sachbezogenen Texten aus meiner internationalen Tätigkeit für eine Hilfsorganisation. Aber das meine ich ja nicht. Ich meine nicht Sachbücher, sondern Belletristik. Schöne Literatur. Romane, Kurzgeschichten und so.  

Ich habe schon viele Anläufe unternommen, um ein Buch zu schreiben, bin aber meistens schon am Titel und am ersten Satz gescheitert. Kafka hatte es da noch leichter mit seinem Gregor Samsa. Alle genialen Romananfänge sind schon vergeben. Heute, wo sich eine Jede und ein Jeder zur Schriftstellerei begabt fühlt, wird geschrieben, was das Zeug hält, auch wenn die Erstauflage eingestampft werden muss. Einen Verleger brauchst du dank Eigenverlag nicht mehr. Trotzdem bleibt die Frage, worüber, was soll ich schreiben? Es war ja alles schon mal da. Wie soll man eine neue Idee haben, wenn über alles und jedes und rauf und runter schon geschrieben wurde? Man will ja nicht rumlabern und kein triviales Zeug schreiben. Bernd Ulrich hat im Feuilleton der ZEIT (Nr. 43, 21. Oktober 2021) beklagt, dass sich Tausende von Romanen mit der deutschen Vergangenheit beschäftigen, Themen wie die 68er und die RAF noch gar nicht mitgerechnet, und meint, „die Sache sei ein bisschen auserzählt, wieso wird sie dann so oft wiedererzählt“? Die Suche nach einem Thema, nach einer noch nicht erzählten Erzählung gestaltet sich noch schwieriger als die nach einem genialen Anfang. Wenn Ulrich zufolge keine Themen der Vergangenheit mehr frei sind, wenn alles schon erzählt ist, dann vielleicht etwas aus der Gegenwart? Pandemie? Kindesmissbrauch? Neue Rechte? Benzinpreis? Oder vielleicht doch Science Fiction? Krimi? Eine Autobiografie? Satire? Immer, wenn ich eine Idee für ein Thema gefunden zu haben glaube, kommt mir jemand zuvor. Schon lange wollte über das Leben im Dorf schreiben, hatte schon viel Stoff dafür gesammelt, dann kam Juli Zeh mit Unterleuten. Meine geplante Kurzgeschichtensammlung „Schöner sterben. Ein Ratgeber für Lebensmüde, Todesmutige, Suizidanfänger, Sterbehelfer und Bestatter“ ist Stückwerk geblieben und wurde gerade von Harald Welzer mit seinem neu erschienenen Buch „Nachruf auf mich selbst“ plagiiert. Ich denke mir, etwas Dystopisches könnte erfolgreich sein: Weltuntergangsszenarien, Atomkrieg etwa, ein gigantischer Meteoriteneinschlag, Klimakrise. Aber selbst das gibt es schon als eigenes Genre – Climate Fiction.

Meine Schreibhemmung ist eigentlich gar keine. Ich schreibe durchaus viel und häufig. Das Problem ist die Länge. Ein Roman, da sitzt man ja ewig dran. Und man muss ja auch eine Idee haben, einen Plot. Ich bin mehr so für die kurzen Texte. Da halte ich es mit dem von mir hochgeschätzten Alfred Polgar. Kennen Sie nicht? Egal. Originalton Polgar: „Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als dass es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe“. Das hören Dostojewskij, Thomas Mann oder Frank Witzel natürlich nicht gerne. An anderer Stelle schreibt Polgar: „Meine armen Erzählungen bekamen es zu fühlen, dass zehn Seiten bedruckten Papiers, auf eine richtiggehende Waage gelegt (gleiche Stärke und gleicher Umfang des Papiers angenommen) entscheidend weniger wiegen als tausend.“ Diesbezüglich bin ich sehr produktiv. Kurze Texte habe ich in den letzten Jahren sehr viele geschrieben. Ein paar davon kann man auf diesem Blog nachlesen. Für eine Kurzgeschichte habe ich sogar mal einen Preis bekommen. Morgen fange ich an, mein erstes Buch zu schreiben: Der Tag, als Facebook ausfiel. Etwas Dystopisches eben. Der erste Satz: „Als Mark Zuckerberg eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, konnte er seinen Facebook-Account nicht mehr öffnen.“


Störungen im Betriebsablauf: Wie cringe ist das denn?

Auf die Bahn zu schimpfen ist in. Jede/r tut es. Jede/r weiß eine krasse Geschichte, was alles schiefgelaufen ist bei der letzten Bahnfahrt. Ich lehne es ab, mich an diesem allgemeinen Bahnbashing zu beteiligen. Wer will, kann dazu meine „Bahngeschichten“ auf der Seite „Literarisches“ lesen. Besonders die lustigen Ansagen der Zugchefs helfen über manchen Verspätungsfrust hinweg. Meine Favoriten: „Achtung eine Durchsage. Soeben hat sich eine Damenkette hier eingefunden“, oder der hier: „Fahrgäste ohne Sitzplatzreservierung möchten wir darauf hinweisen, dass die Plätze im Speisewagen nur zum Verzehr bestimmt sind.“. Na dann guten Appetit.

Wenn die Bahn mal wieder verspätet ist und dafür „Störungen im Betriebsablauf“ verantwortlich macht, dann ist das weder sus noch sheesh. Höchstens ein bisschen cringe, aber vielleicht auch lost. Damit haben wir Besucher von Gammelfleischparties dem Jugendwort des Jahres 2021 unsere Referenz erwiesen und gezeigt, wie sehr wir dem Zeitgeist Tribut zollen und  beim Ranwanzen an die Jugend nicht zu cringe sind (liebe ZahnspangenträgerInnen: Das passt da jetzt nicht wirklich, oder?). Aber jetzt mal im Ernst: Störungen im Betriebsablauf? Ja geht´s noch dämlicher? Wenn mal wieder eine Weiche klemmt, der Lokführer besoffen zu seiner Schicht gekommen ist oder der Zug in umgekehrter Wagenreihung nicht rechtzeitig bereitgestellt werden konnte? Wenn eine/r sich vor den Zug schmeißt oder ein Sturm die Oberleitung runterhaut, da kann die Bahn ja nun wirklich nichts für. Aber wenn das halbe Fahrgerät marode ist, die Schienen nicht gewartet, die Signale ausfallen, das Bahnpersonal miserabel bezahlt – sind das noch Störungen im Betriebsablauf? Und dann die Toiletten. Viele sind „außer Betrieb“, und die, die in Betrieb sind, stinken wie ein französisches Pissoir nach einem sechsstündigen Fauve-Konzert. Für Menschen, die keine Störung im Betriebsablauf, aber eine Störung im Urinablauf haben, kann daraus eine dringende Notlage entstehen. Früher konnte man ja noch aus dem geöffneten Zugfenster pissen (gilt nur für Männer), aber das geht heute nicht mehr, schon gar nicht bei umgekehrter Wagenreihung. Cringe eben.


Sensation: Caritas hängt den Deutschen Fußballbund ab!

Dass ich das noch erleben durfte: Der Deutsche Caritasverband, mein Exarbeitgeber, hat eine Frau als Präsidentin! Wow!! Obwohl die Satzung, ähnlich wie das Grundgesetz beim Bundeskanzler, diesen Extremfall bisher gar nicht auf dem Zettel hatte! Und als ob das nicht schon genug wäre: Die neue Präsidentin ist – weil weiblichen Geschlechts – kein Priester, wie das seit 125 Jahren bei der Caritas selbstverständlich war. Da gerät in der katholischen Kirche offenbar einiges ins Wanken. Immerhin sind Kirche und Caritas in dieser Hinsicht schon weiter als der Deutsche Fußballbund. Die Deutsche Bischofskonferenz hat seit einiger Zeit eine Frau als Generalsekretärin. Sie hat es also dort nur mit Männern zu tun, Bischöfen vor allem, die sich erfahrungsgemäß wenig von Laien sagen lassen, und schon gar nicht von einer Frau. Wenn das mal gutgeht.

Die Caritas ist global vernetzt und hat mit Caritas internationalis auch einen weltweiten Dachverband mit Sitz in Rom (wo sonst). Und, jetzt haltet Euch fest, es gab mal eine Frau als Generalsekretärin. Für die Kurie in Rom offenbar ein Affront. How dare you, Caritas! Bei einem Papstempfang für die Delegierten der Caritas-Generalversammlung wurde sie von einem Sheriff im Dienst des päpstlichen Protokolls aufgefordert, ihren Platz in der ersten Reihe zu räumen und sich gefälligst nach weiter hinten zu verkrümeln. Ein paar Intrigen im Hintergrund führten dann später dazu, dass sie, trotz unangefochtener Kompetenz, nicht mehr für eine zweite Amtszeit gewählt wurde. Insofern und auch insonah darf man die Wahl einer Präsidentin an die Spitze der deutschen Caritas durchaus als Sensation bezeichnen.

Für den Wohlfahrtsverband Caritas mit fast 700.000 Beschäftigten möchte man hoffen, dass die Frau mit dem schwierigen Namen (Eva Maria Welskop-Deffaa) es schafft, dass auch bei der Caritas mehr Frauen in Führungspositionen gelangen. Eine ihrer Prioritäten: Die Digitalisierung. Niemand, der die das nicht auch möchte. Dass Digitalisierung an sich und als Selbstzweck die Menschheit noch nicht entscheidend voranbringt, dazu habe ich mich an anderer Stelle bereits geäußert. Die Caritas mit ihren sozialen Diensten und Einrichtungen, ihrem sozialpolitischen Engagement und auch mit der internationalen Arbeit ist unverzichtbar für unsere Gesellschaft und ein positives Korrektiv zu einer Amtskirche, die dringend reformbedürftig ist (Puh, jetzt habe ich aber gerade nochmal die Kurve gekriegt …).


Henker, Banker, Sprachprofiler. Über alte und neue, ehrenwerte und aufgeblasene Berufsbezeichnungen

Welchen Beruf haben Sie? Die Frage begegnet einem im Alltag ständig, in Formularen, Anträgen, Meldezetteln. Oder auch beim Smalltalk. Was machen Sie beruflich? Für Uni-Professoren, Taxifahrer oder Frisöre und Frisörinnen (nicht Friseusen! Weil lt. Duden umgangssprachlich abwertend und leicht zu verwechseln mit Fritteusen) ist die Antwort leicht. Was aber sagt eine Prostituierte, ein Wunderheiler, ein/e Arbeitslose/r, ein Drogendealer – falls das als Berufsbezeichnung überhaupt durchgeht? Auch ist gar nicht immer klar, ob der erlernte Beruf oder die aktuelle Tätigkeit gemeint ist. Am Anfang meines Berufslebens konnte ich, gerade siebzehn geworden, antworten: Hilfssachbearbeiter. Das war die Tätigkeit, die mir nach Abschluss meiner dreijährigen Lehre beim Arbeitsamt zugewiesen worden war. Ich durfte Sachen bearbeiten, aber nur hilfsweise. Wir wollen hier nicht weiter in der Frage herumstochern, was „eine Sache bearbeiten“ so alles bedeuten kann. Wenige Monate später wurde ich zum Sachbearbeiter, also ohne „Hilfs“, befördert. Nach diesem irren Karrieresprung durfte ich dann ohne fremde Hilfe Schlechtwettergeld für Baufirmen berechnen – ohne Excel, alles per Hand in riesigen Tabellen. Oder Arbeitslosen, die sich nicht rechtzeitig bei ihrem Arbeitsvermittler gemeldet hatten, die Leistungen kürzen. Ich habe diesen „Beruf“ nur zwei Jahre ausgeübt, dann war´s genug mit Sachen bearbeiten. Heute müsste ich auf die Frage nach meinem Beruf „Rentner“ sagen, was noch schlimmer ist als Hilfssachbearbeiter, weil es suggeriert, dass meine Haupttätigkeit darin besteht, Rente zu beziehen. Das ist zwar nicht unangenehm, aber auch nicht direkt lebensinhaltfüllend.

Früher, also noch früher als früher, so richtig ganz viel früher, gab es nur die Berufe Jäger und Sammler. Diese waren ausnahmslos freiberuflich tätig, zahlten keine Umsatzsteuer und hatten keinen eigenen Internetauftritt. Und von wegen „m/w/d“ – Frauen mussten auf die Kinder aufpassen und auf das Feuer. Später kamen dann nach und nach weitere Berufe hinzu: Soldaten, Henker, Adelige, Bauern, Handwerker, Aderlasser, Gastwirte, Gaukler und Wegelagerer. Einige davon gibt es auch heute noch, sie heißen bloß anders: Banker, Keynote-Speaker oder Anne Will. Schaffner heißen auch nicht mehr Schaffner, sondern Zugbegleiter. Aus der Schreibkraft wurde die Officemanagerin. Der Henker heißt heute nicht mehr Henker, aber wie? Irgendjemand muss ja zwecks Vollzug der Todesstrafe die Spritze setzen oder beim Fallbeil auf den Knopf drücken. Also vielleicht „Fallmanager“?

Das Spektrum der Berufe und Berufsbezeichnungen ist heutzutage riesig. Mit der Frage „Na, mein Kleiner (wahlweise meine Kleine), was willst du denn mal werden?“, meist schon im Kindergarten gestellt, stürzt man die verwöhnten Blagen möglicherweise in eine frühkindliche Existenzkrise. Die heutige Generation kennt ja nicht mehr die diesbezüglich Orientierung und Halt gebende Sendung „Was bin ich? Heiteres Beruferaten mit Robert Lembke“ (Welches Schweinderl wollens denn?). Früher, und jetzt nicht mehr ganz so früher, konnten Jungs noch sagen „Lokomotivführer“ und für Mädels bot sich an „Hausfrau“ oder bestenfalls „Kosmetikerin“. So einfach liegen die Dinge aber heute nicht mehr. Die Auswahl unter den Berufen von A bis Z ist, wie gesagt, riesig: Astronaut, Automobilkauffrau, Blutspender, Bestsellerautor, Bratwurstsommelier, Dreisternekoch, Zahnspangenmechaniker/in (ich korrigiere: es muss „Zerspannungsmechaniker/in“ heißen, das kommt davon, wenn man nicht zerspannt ist), und, für alle, denen das Gehalt nicht ganz unwichtig ist, Profifußballer.

Manche Berufe sind, weil nicht mehr zeitgemäß, weggefallen, was allein schon der poesieschönen Bezeichnungen wegen schade ist, wie etwa Gaslaternenanzünder, Almosensammler, Schiffschaukelbremser, Abhörkommissar, Stromableser, Gemeindediener, Abtrittanbieter, Gabelstaplerfahrer. Den Gabelstaplerfahrer – eine Zeit lang mein Traumberuf – gibt es noch, auch die weibliche Variante, aber er oder sie wird bald überflüssig, wegen der Digitalisierung – autonomes Fahren und so. Auch irgendwie schade. Mit diesem wendigen, elektrisch betriebenen Fahrzeug zwischen meterhohen Regalen zentimetergenau rangieren und im Wahnsinnstempo vollbeladene Paletten von A nach B transportieren – hohe Kunst und tief beeindruckend. Das gibt es sicher inzwischen als cooles Videogame.

Von den Akademikern und Künstlern haben wir jetzt noch gar nicht gesprochen. Viele, sogar die meisten meiner Bekannten und Freunde haben einen akademischen Abschluss: Arzt, Apothekerin, Jurist, Pädagogin, Theologin, Volkswirt, mindestens ein Diplom in irgendwas. Jede Menge Doktortitel, auch Habilitierte. Bei vielen waren schon die Eltern und Großeltern Akademiker, Pfarrer, Musiker. Meine Eltern dagegen hatten einfache Berufe: Der Vater Kraftfahrer ohne Ausbildung, die Mutter Näherin ohne Lehrabschluss. Meine Vorfahren waren fast ausnahmslos Ackerer, einer der ältesten Berufe der Menschheitsgeschichte. Heute würde man Landwirt oder Kleinbauer sagen. Erst bei meinen Großeltern gibt es, wie die jeweiligen Heiratsurkunden belegen, andere als landwirtschaftliche Berufe wie Schreiner, Näherin, Lagerarbeiter. Ein Ururgroßvater väterlicherseits war Schiffer. Überhaupt scheint die Schifferei ein Betätigungsfeld meiner Vorfahren gewesen zu sein. Sie lebten an der Mosel und Schiffer bedeutete, dass man Lastkähne über den Leinpfad flussaufwärts zog, wahrscheinlich mit Pferden? Also auch nicht unbedingt eine nobelpreisverdächtige Tätigkeit, hätte es den Preis damals schon gegeben. Ganz genau weiß ich aber nicht, was meine Schiffervorfahren damals getrieben bzw. gezogen haben.

Bei manchen aufgeblasenen Berufsbezeichnungen können wir, wenn wir ehrlich sind, uns nicht so recht vorstellen, was der oder die Inhaber/in tut: Experte für kreatives Mindset? Sprachprofiler? Achtsamkeitscoach? Improvement-Manager?? Was dagegen ein Persönlichkeitstrainer oder ein Benimmcoach tut, verstehen wir schon eher, wenngleich deren Angebot so überflüssig wie zwecklos ist wie der bereits erwähnte Bratwurstsommelier (den habe ich mir ausgedacht, aber vielleicht gibt es ihn wirklich, falls ja, bitte bei mir melden, denn Bratwürste können geschmacklich sehr unterschiedlich ausfallen!).      

Jetzt nochmal zurück zum Anfang und was Persönliches zu diesem Thema. Was war ich nicht schon alles:  Schülerlotse, Blutspender, Entwicklungshelfer, Betriebsrat, Bäckereigehilfe, Flipperkönig, Buchautor, Gemeinderat, Blogger, Klimaaktivist. Wenn ich meinen Lebenslauf aufhübschen müsste für eine Kandidatur zum Ersten Vorsitzenden des Goldfischzuchtvereins Brunsbüttelkoog, würden mir noch viele systemrelevanten Funktionen, Posten und Aktivitäten einfallen. Wenn ich aber gefragt werde, was mein Beruf ist (oder war), wird es schwierig: Gemeint ist ja nicht die Ausbildung, sondern die Tätigkeit. Eine kurze, treffende Bezeichnung für das, was ich die meiste Zeit meines Lebens beruflich gemacht habe, gibt es gar nicht: Bei einer Hilfsorganisation in der internationalen Entwicklungs- und Katastrophenhilfe arbeiten, wie nennt man das denn? Improvement-Manager könnte sogar passen. Oder doch Experte für Armutsbekämpfung, Katastrophenhilfe und kreatives Mindset? Für kreative Vorschläge, mit oder ohne Mindset, bin ich offen.  


Sondierungsgespräche: Noch blinkt die Ampel ziemlich gelb

Seit gestern liegt das Ergebnis der Sondierungsgespräche zwischen SPD, Grünen und FDP vor. In einem zwölfseitigen Sondierungspapier kann man nachlesen, was sich die drei beteiligten Parteien für ihre Koalitionsverhandlungen vorgenommen haben. Es ist wohl der unvermeidbaren politischen Prosa geschuldet, dass der Text auch solche hochtrabenden Worthülsen und inhaltsleeren Sprechblasen enthält wie: „Wir fühlen uns gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet“, „wie wir unser Land nachhaltig modernisieren können“, „niemand wird ins Bergfreie fallen“ oder „Deutschland stellt sich seiner globalen Verantwortung“.

Aber schauen wir mal auf einige konkrete Aussagen:

  • „Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben“
  • „Die gesetzliche und die private Kranken- und Pflegeversicherung bleiben erhalten“
  • „Wir werden im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse die nötigen Zukunftsinvestitionen gewährleisten, insbesondere in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie die Infrastruktur“
  • „Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen“

Das liest sich ja wie das Wahlprogramm der FDP, oder täuscht der Eindruck? Da muss die grüne Verhandlungsdelegation doch ständig in die Tischplatte gebissen haben? Klar, es gibt in dem Sondierungspapier auch Absichtserklärungen, die eine grüne oder sozialdemokratische Handschrift tragen – etwa zu Klimaschutz, Mindestlohn oder Bürgergeld statt Hartz IV. Insofern darf man gespannt sein, wie das konkret in einem – hoffentlich zustande kommenden – Koalitionsvertrag aussehen wird. Zu befürchten ist allerdings, dass der gemeinsame Nenner am Ende recht klein ausfallen könnte.

Stark unterbelichtet oder ganz abwesend, wie schon im Wahlkampf, sind mal wieder wichtige globalen Themen wie Armutsbekämpfung, internationale Krisenbewältigung und Friedenspolitik und atomare Abrüstung. Die zivilgesellschaftliche Friedensorganisation forumZFD mit Sitz in Köln hat unter der Überschrift „Entschieden für Frieden“ fünf Forderungen an die neue Bundesregierung formuliert, darunter der Beitritt Deutschlands zum Vertrag zur Ächtung von Atomwaffen und der Abzug der in Deutschland stationierten Atomwaffen. Das ganze Papier des forumZFD kann man hier nachlesen.


Ach Kirche: Heute mal Mitleid mit dem katholischen Klerus

Ein Bischof, der Puff heißt, kann einem allein schon seines Namens wegen Leid tun: Er wird sich vermutlich über einen Mangel an Spötteleien und Kalauern nicht beklagen müssen. Schwaderlapp ist als Name auch nicht viel besser. Davon aber mal abgesehen: Beide, Ansgar Puff und Dominikus Schwaderlapp, haben beim Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln keine bella figura gemacht. Täter gedeckt, Opfer nicht ernstgenommen, Strafvereitelung – ach Kirche. Der Papst hat das als lässliche Sünde eingestuft und die beiden Kirchenfürsten nicht in die Verbannung geschickt. Ihr Chef, Rainer Maria Woelki, muss ein halbes Jahr in der Ecke stehen und darf dann wieder Gläubige zum Kirchenaustritt motivieren. Ein anderer, Marx (nicht der mit dem Rauschebart und dem Klassenkampf), Autor von „Das Kapital“ und Ex-CEO des deutschen Klerus, wollte die Klamotten hinschmeißen, aber auch bei ihm hat der Papst gesagt: Eso no viene en la bolsa para nada (= kommt überhaupt nicht in die Tüte, und damit ist nicht die Papptüte gemeint, die Bischöfe sich auf dem Kopf montieren, wenn es feierlich wird).

Foto: KNA

Ach Kirche. Meine allererste Begegnung mit einem Bischof beschränkte sich auf eine Ohrfeige durch denselben, eine als Firmung getarnte mittelschwere Körperverletzung. Sexuellen Missbrauch habe ich in meiner katholischen Sozialisation nicht erfahren, da gehöre ich wohl zu einer Minderheit. Ich hatte als Jugendlicher mit Priestern zu tun, die gar nicht so klerikal drauf waren, für mich eher prägende Vorbilder, wenn man mal vom Alkohol- und Zigarettenkonsum absieht.

Und dann, später in meiner Zeit in Südamerika, hatte ich das Glück, viele sozial engagierte Geistliche, vom einfachen Pfarrer bis zum Erzbischof, kennenzulernen. Auch solche, denen protziges Gehabe und luxuriöser Lebensstil zutiefst zuwider waren. Zum Beispiel José Clemente Maurer, Erzbischof von Sucre/Bolivien, der mir als neu ins Land gekommenen, unerfahrenen Entwicklungshelfer einschärfte, zum Pinkeln unbedingt vom Pferd abzusteigen und es nicht aus dem Sattel zu versuchen.* Er hatte als Pfarrer jahrelang die abgelegenen Weiler der Indios in den Anden mit dem Pferd besucht und wusste, wovon er sprach.

Warum ich das hier schreibe? Die katastrophalen Verfehlungen der Amtskirche mit dem Thema sexueller Missbrauch sind durch nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Das erschreckende Ausmaß ist gerade erst wieder durch die Missbrauchsstudie in Frankreich deutlich geworden. Aber: Nicht alle kirchlichen Amtsträger waren geile Kinderschänder. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.  

*Die ganze Geschichte dazu kann man hier nachlesen: „Der Kardinal hat niemand, der für ihn schreibt.“ In: Jürgen Lieser. Weltgeschichten. Freiburg 2014, S. 26 ff.


Lass uns (mal wieder) übers Gendern reden

In diesem Beitrag geht es ums Gendern. Ja, doch, auch wenn´s nervt – es muss jetzt wieder mal sein. Als Mensch, der ständig Texte produziert, kommt man an dem Thema doch gar nicht vorbei. Und man lernt ja immer wieder Neues dazu, wenn man nicht total borniert ist.  Vor etwa einem halben Jahr, am 18. März, habe ich mich in einem Beitrag über genderfluide Sprache geäußert und meine Schwierigkeiten mit dem Stimmritzenverschlusslaut gebeichtet https://juergenlieser.wordpress.com/2021/03/18/uber-geschlechtsidentitaten-knacklaute-und-genderfluide-sprache/

Zur geschriebenen Sprache habe ich damals gemeint: „Ich bin mit dem generischen Maskulinum groß geworden und habe mir lange Zeit, um ehrlich zu sein, nichts dabei gedacht. Heute weiß ich, dass das ein sexistischer Sprachgebrauch ist und dass ich, wenn ich das benutze, ein chauvinistisches Schwein bin. Wäre ich eine Frau oder nonbinär, würde mir das herablassende „ihr seid ja mitgemeint“ vermutlich auch schon längst total auf den Sack gehen, bzw. auf die Eierstöcke. Inzwischen, das heißt eigentlich schon ziemlich lange, habe ich bei der Verwendung des generischen Maskulinums, egal ob geschrieben oder gesprochen, ein schlechtes Gewissen. Immerhin. Es passiert mir immer noch ständig, aber eher aus Faulheit und nicht aus Ignoranz. Beim Schreiben fällt mir das Gendern echt schwer, da bitte ich die feministische Sprachkritik schon mal um Generalabsolution.“  

Mehr Selbstgeißelung, Asche aufs Haupt und Unterwerfung unter den Zeitgeist kann man mir nun wirklich nicht abverlangen. Und immer noch bin ich auf der Suche nach der richtigen, nämlich gendersensiblen Sprache. In der linksliberalen (?) Wochenzeitung DIE ZEIT tobt seit Monaten ein Glaubenskrieg im Feuilleton und eine Kontroverse in der Rubrik Leserbriefe (wieso heißt die nicht längst Leser*innenbriefe?) um die gendergerechte Sprache. Zuletzt hatte Charlotte Parnack (ZEIT Nr. 38) Anstoß daran genommen, dass die Moderator*innen des öffentlich-rechtlichen ZDF in den Hauptnachrichten den Genderstern sprechen, und das auch noch bei bösen Menschen (Islamist*innen!). Einen veritablen Shitstorm hat Ze de Rock (ebenfalls in der ZEIT, Nr. 12) mit seiner herrlich-amüsant-schrägen Polemik „Von Innen, Unnen und Onnen“ ausgelöst und mit seinem Gegenvorschlag, „das“ als Artikel der Wahl einzuführen: „Das gute Bäcker begrüßt immer das Kunde“. Oder statt des generischen Maskulinums ein generisches Femininum: “Die gute Bäcker begrüßt immer die Kunde“. Oder noch radikaler sein Ultradeutsch forte: „Man nimmt das Stammwort ´back`, fügt ein -a hinzu, und man hat eine Frau: die Backa. Männliche Bäcker sind Backos, und alle zusammen sind Backis. Eine Busfahrerin wäre eine Bussa, ein Fahrer ein Busso und alle zusammen Bussis.“

Das ist zwar lustig, aber nicht alltagstauglich. Der Duden, Wächter und Hüter der deutschen Sprache, hilft nicht wirklich weiter. Im Gebrauch sind inzwischen verschiedene Versionen für eine gendersensible Schriftsprache: Genderstern, Binnen-I, Unterstrich, Doppelpunkt. Die ewig gestrigen Verfechter*innen des generischen Maskulinums finden nur noch in der AfD, in konservativen Kirchenkreisen oder bei CSU-Stammtischen Applaus, wenn den Grünen mal wieder Gender-Gaga angedichtet wird. Die bei Anreden inzwischen übliche Doppelnennung (liebe Schülerinnen, liebe Schüler) ist zumindest schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, schließt aber diverse/nicht-binäre Menschen aus. Wie spricht man die an (hey du, hallo)? Die Schreibweise mit dem Genderstern (Lehrer*innen) will diese Lücke schließen und scheint sich mehr und mehr zu etablieren. Gesprochen wird das Sternchen mit dem Stimmritzenverschlusslaut (Glottischlag, Knacklaut). Von einer einheitlichen, allgemein verbindlichen Regelung kann aber keine Rede sein. Weder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, noch in Büchern und Printmedien wird einheitlich und durchgehend gegendert, von Ausnahmen (TAZ) abgesehen.

Was also tun bzw. wie schreiben und sprechen? Wie heutzutage beinahe alle Zeitgenoss*innen bin auch ich hochsensibel und möchte durch meine Texte nur Menschen beleidigen, die es wirklich verdient haben. Was wäre eine wünschenswerte, akzeptable und praktikable gendersensible Sprache, die sowohl im Alltag als auch in amtlichen Kontexten taugt? Kann man sich durchgehend gegenderte Gesetzestexte vorstellen? Zwei lebensnahe Beispiele zum Abgewöhnen: In meiner Gemeinde, wo ich im Gemeinderat sitze, wurde neulich eine neue Feuerwehrsatzung verabschiedet. Dem lobenswerten Bemühen, auch bei der Feuerwehr eine gendersensible Sprache zu etablieren, sind dann solche Satzmonster geschuldet: „Zur ehrenamtlich tätigen Feuerwehrkommandatin oder zum ehrenamtlich tätigen Feuerwehrkommandanten und ihrer oder seiner Stellvertreterin oder ihr oder sein Stellvertreter kann nur gewählt werden, wer…“

Zweites Beispiel: Der in der Gemeinde neu gebildete Jugendrat hat sich eine Satzung gegeben, selbstverständlich konsequent durchgegendert. Die Jugendlichen waren nicht davon abzubringen, dass wenigstens bei „Mitglieder*innen“ der Genderspaß aufhört.

Mein Fazit: Ich habe seit März nicht wirklich etwas dazugelernt. Doch vielleicht dies: Sollte ich mal in die Verlegenheit kommen, ein Schreiben an die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen unseres Sprengels zu adressieren, würde ich schon an der korrekten Anrede scheitern: „Sehr geehrte Bürger*innen*meister*innen“ – oder wie? Kann jemand helfen?


Nachtrag zu Gruppenbild mit Dame: We are Family

Das wird ja immer schöner …