Sign my rocket. Oder: Wie wir lernen, die Bombe zu lieben

Schon gemerkt? Politiker gefallen sich zunehmend darin, Raketen, Haubitzen, Panzerkanonen zu streicheln. Und wir wollen hier nicht mit dem lächerlichen „Phallus-Symbol“-Hinweis kommen. Vielleicht im Falle von Putin, ok.

Mit glänzenden Augen ehrfurchtsvoll bei Rheinmetall glänzende Geschosse berühren – wie sich das wohl anfühlt? Der Kanzler tut es, die Grünen tun es, die FDP sowieso. Die CDU natürlich auch. Die SPD weiß noch nicht so recht, Saskia Esken und Rolf Mützenich sind dagegen, die Linke ist dagegen, die AfD auch. Der Kanzler neulich in seiner Videobotschaft: „Die wichtigsten Waffensysteme und vor allem auch Munition müssen kontinuierlich vom Band laufen.“ Der Grüne Anton Hofreiter (der fesche Toni mit der 60er-Jahre-Frisur) und die FDP-Tante und Talkshow-Königin MAS (man möchte den Namen eigentlich nicht mehr hören, aber sie quatscht einfach in jedes Mikro, das man ihr hinhält oder das einfach nur rumsteht): Die Beiden jedenfalls fordern in trauter Zweisamkeit den Taurus für die Ukraine.

Die zentrale Frage der Talkshows lautet in diesen Tagen: Butter oder Kanonen? Meinetwegen auch „Rente oder Rüstung“, um nicht den Nazisprech von Goebbels zu benutzen. Damit wir die nötige Aufrüstung finanzieren können, müsse der Sozialstaat Leistungen kürzen. Das meinte Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts IFO, kürzlich bei Maybrit Illner. Der Finanzminister freut sich und haut in der gleichen Sendung in die gleiche Kerbe: Die Sozialleistungen müssen für drei Jahre lang eingefroren werden. Böse Zungen behaupten, für Lindner sei der Ukrainekrieg willkommener Anlass, Sozialleistungen in Frage zu stellen. Die sollen mal arbeiten gehen! Leistung muss sich wieder lohnen! Lindner hat seinen ersten Porsche doch auch mit 20 gekauft! Auch Kanzler Scholz verkündet, dass wir, um den Wehr­etat zu finanzieren, an anderer Stelle kürzen müssen.

Also Umverteilung vom Sozialetat in den Rüstungshaushalt? Weil beides – hohe Sozialleistungen und Aufrüstung – nicht gleichzeitig finanzierbar sei? Die TAZ  bestreitet diese Annahme und schreibt am 26.02.24 unter der Überschrift „Angriff auf den Sozialstaat“: „Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich Aufrüstung und Sozialstaat nicht gegenseitig ausschließen müssen. Im Kalten Krieg gab die BRD für den Wehretat zu Spitzenzeiten fast 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Trotzdem wurde damals der Sozialstaat rapide ausgebaut. Es ist offensichtlich also möglich, sowohl einen aufgeblähten Militärapparat als auch einen starken Sozialstaat zu finanzieren, ohne dass wir bluten müssen.“

Wir wissen nicht, wer recht hat: Clemens Fuest oder die TAZ. Ob also die für notwendig erachtete militärische Aufrüstung nur durch Kürzungen im sozialen Bereich möglich sein wird. Wenn das so kommen sollte, dann kann allen Empfängern von Sozialleistungen (in besseren Kreisen auch „Harzer“ genannt) nur empfohlen werden, statt ihr Geld für Schnaps und Zigaretten zu verjubeln, Aktien des Rüstungsherstellers Rheinmetall, dem TOP-Performer unter den DAX-Konzernen, zu kaufen.

Was ich persönlich an der Debatte vermisse, sind kreative Ideen, wie die Aufrüstung finanziert werden könnte, ohne die Sozialleistungen zu kürzen. Etwa durch neue Formen des bürgerschaftlichen Engagements! Die Bundesregierung könnte patriotisch gesinnten Bürgerinnen und Bürgern eine Beteiligung an der Aufrüstung ermöglichen, indem man etwa für die Patenschaft an einer persönlich signierten 155-Millimeter-Artilleriegranate die Kosten übernimmt – Stückpreis so um die 8.000 Euro. Das ist sogar für Harzer, wenn sie sich zu einer Gruppe zusammenschließen („Wir unter der Brücke“?), machbar. Wer will, kann auch mehrere Granaten bezahlen. Und wer ganz viel Kohle hat, könnte auch einen kompletten Kampfpanzer oder einen Taurus mit persönlicher Widmung finanzieren!

Boris Pistorius kann auf der Skala der beliebtesten Politiker zwar nicht mehr weiter aufsteigen. Aber Lindner, Scholz, Baerbock, Wagenknecht, Hofreiter und MAS könnten mit diesem Angebot ihre Popularität in ungeahnte Höhen treiben! Denkt mal drüber nach, Leute – bald sind wieder Wahlen!

PS: In einem früheren Beitrag auf diesen Blog hatten wir darauf hingewiesen, dass die Amerikaner uns kreativitätsmäßig mal wieder voraus sind: Über die Internetseite „Sign my rocket
kann gegen eine Spende eine Artilleriegranate mit einer persönlichen Botschaft an die russischen Invasoren versehen werden: „Send your message to the russian invaders …You have a chance to send a greeting to orcs with your text written on an artillery shell. You will receive a photo a signed shell with your ordered text.“

Geht doch!


Mein Hund, der Zeitgeist und ich

Unsere Bordercollie-Hündin Lou ist nicht sehr anspruchsvoll: Viel streicheln, „Bring das Bällchen spielen“, Gassi gehen. Fressen natürlich, das ist ihr wichtig. Sie hat ein freundliches, zugewandtes Wesen und begegnet allen Menschen, die uns besuchen, mit Wohlwollen. Nur Igel kann sie nicht leiden. Die meiste Zeit am Tag liegt sie faul rum und döst vor sich hin. Wenn ich mit ihr spazieren gehe, bin ich lieber allein. Dann kann ich auch vor mich hindösen und meinen Gedanken nachhängen.  Doch manchmal lassen sich Begegnungen mit anderen Hundebesitzern nicht vermeiden – Frauen sind mitgemeint –, darunter nette, langweilige und nervige. Bei manchen sage ich „Hallo“, mit anderen wechsle ich ein paar Worte. Man redet dann so dies und das, meist Belangloses.

Leider hat der Zeitgeist auch einen Hund, und weil unsere Hunde gerne und ausgiebig miteinander spielen, kann ich längeren Gesprächen mit ihm, dem Zeitgeist, nicht immer aus dem Weg gehen. So neulich wieder.

Zeitgeist (aufgekratzt): Hallöchen!
Ich (eher brummig): Hallo.
(kurze Pause)
Zeitgeist: Auch wieder unterwegs?
Ich (statt „Sieht man ja“ zu antworten): Ja, muss sein. Bei dem Wetter geht ja niemand freiwillig vor die Tür … (und weiter, was sich alsbald als Fehler herausstellt) …der Klimawandel könnte sich wenigstens mal von seiner wärmeren Seite zeigen.
Zeitgeist: Das mit dem Klimawandel ist doch reine Panikmache. Die wollen nur, dass wir uns alle eine neue Heizung einbauen und ein Elektroauto kaufen …
Ich: Äh, die? Wer ist „die“?
Zeitgeist: Na die Grünen. Also der Habeck. Die ganze Ampel. Die ist sowieso an allem schuld. Wir haben die dümmste Regierung aller Zeiten. Diese Leute sind sowas von unfähig. Die ganze politische Klasse ist am Ende.
Ich: Das scheint mir aber etwas unterkomplex. Ich finde auch nicht alles gut, was unsere Regierung derzeit auf die Reihe kriegt und wie sie sich gegenseitig zerlegen, aber …
Zeitgeist (fällt mir ins Wort): In Peru werden Radwege mit deutschen Steuergeldern gebaut, während hier Brücken und Straßen marode sind. Deutschland wird doch systematisch kaputt gemacht. Findest Du (seit wann duzen wir uns?) das etwa in Ordnung? (Ohne meine Antwort abzuwarten) … und Annalena Baerbock gibt im Monat 20.000 Euro für Ihre Klamotten und den Friseur aus – von unseren Steuergeldern natürlich.
Ich: Das kann ich mir nicht vorstellen – wo haben Sie das denn her?
Zeitgeist: Hab´ ich aus dem Internet. Darüber wird halt in den Mainstreammedien nicht berichtet.
Ich (versuche das Thema zu wechseln): Was mir an unserer Politik nicht gefällt, das sind die hohen Rüstungsausgaben, immer mehr für Panzer und Munition, und gleichzeitig soll an den  Sozialausgaben gespart werden …
Zeitgeist: Wenn die Asylanten nicht so viel Geld bekämen, würden sie gar nicht erst zu uns kommen. Es muss endlich in großem Stil abgeschoben werden. Und davon mal abgesehen: Deutschland muss kriegstauglich werden.
Ich: Und wann wäre das?
Zeitgeist: Das geht natürlich nicht von jetzt auf gleich. Ein paar Jahre wird es wohl dauern, bis wir so weit sind, dass wir uns gegen die Russen verteidigen können. Die Amerikaner wollen uns nicht mehr schützen, deshalb brauchen wir eigene Atomwaffen. Natürlich nur zur Abschreckung …
Ich: Sorry, ich muss mich um den Hund kümmern (Lou hat während der letzten Zeitgeist-Äußerungen auf die Wiese gekotzt … (zum Hund gewandt) Mensch Lou, hast du wieder Scheiße gefressen, sollst du doch nicht … (und zum Zeitgeist) man sieht sich …


`S ist leider Krieg – und ich begehre nicht schuld daran zu sein

… so Matthias Claudius in seinem Kriegsgedicht von 1778. Und wir? Wie steht es mit unserer Unschuld an den Kriegen dieser Tage? Dabei meint das „wir“ hier nicht den eher unwahrscheinlichen Fall einer individuellen schuldhaften Verstrickung. Niemand von „uns“ ist für den Krieg, wir lehnen ihn ab, wir wünschen, dass endlich Friede sei. Wenn schon nicht Frieden, dann wenigstens Waffenstillstand. Niemand von uns greift zur Waffe und kämpft mit. Vielleicht sind wird indirekt beteiligt, weil unsere Wertpapierfonds gerade kräftig zulegen? Profitiert mein angeblich nachhaltiger Fonds etwa doch vom Krieg, weil Teile davon bei Rüstungsunternehmen angelegt sind (lässt sich leicht nachprüfen auf der Internetseite Faire Fonds)? Wer damit kein Problem hat – Kriegsgewinnler hin oder her – der möge seine Ersparnisse gleich komplett beim Rüstungsunternehmen Rheinmetall anlegen. Dessen Aktien schießen – man verzeihe mir dieses alberne Wortspiel – gerade durch die Decke. Seit der deutsche Panzerbauer ein neues Werk zur Herstellung von Artilleriemunition in der Ukraine plant – das war jüngst bei der Münchener Sicherheitskonferenz zu erfahren – ist die Aktie auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Während in diesen Tagen die Wachstumsprognosen für die deutsche Wirtschaft eher schlecht sind, trifft das für die Rüstungsindustrie nicht zu. „Frieden schaffen mit mehr Waffen“ – das scheint die allgemein akzeptierte Rechtfertigung dieser Tage zu sein, und sie geht quer durch Parteien, Kirchen und Wirtschaftsverbände. Wenn das so ist, dann wird der Kauf von Aktien der Rüstungsindustrie geradezu, weil Frieden schaffend, zur moralischen Verpflichtung.

Es ist leicht, gegen den Krieg zu sein. Wir sehnen uns nach Frieden und danach, am Krieg nicht schuld zu sein. Wir sitzen auf dem Sofa und würden am liebsten abschalten, wenn das Kriegsgeschehen wieder die Nachrichten beherrscht. Wir schütteln den Kopf über die zunehmende und aggressiver werdende Kriegsrhetorik in Politikerstatements und in den Talkshows. „Wir müssen kriegstauglich werden – aber leider wird das erst in fünf Jahren möglich sein …“ Es wird aufgerüstet, und das nicht nur verbal. Die Regierung will mehr Geld fürs Militär, es werden neue Rüstungsbetriebe eingeweiht, wir entsenden Kriegsschiffe in Krisenregionen.

Wir beteiligen uns am NATO-Manöver Quadriga 2024, dem größten seit dem Ende des Kalten Krieges. Vorbei die Zeiten des „Nie wieder Krieg“, als 1949 selbst ein Franz-Josef Strauß im Bundestag verlautete: „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen.“

Darüber, warum das friedliche Zusammenleben der Völker immer wieder durch neue Kriege unmöglich gemacht wird, haben sich seit dem Altertum Philosophen, Theologen, Historiker, Militärs, Politiker und Psychologen Gedanken gemacht. Sozialpsychologen wie Erich Fromm versuchten, die Ursachen von Kriegen in der Natur, in der Psyche des Menschen zu suchen. Also bei uns selbst? Die Bösen, das sind ja erst einmal die anderen, die autoritären Führer, die um des eigenen Machterhalts willen Krieg gegen das eigene Volk führen, die Kriegstreiber und Aggressoren im Kreml, die Gräueltäter und Vergewaltiger der Hamas, die gewalttätigen Siedler in der Westbank, die Scharfmacher in der israelischen Regierung, die am liebsten alle Palästinenser aus Gaza vertreiben wollen.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine jährt sich heute zum zweiten Mal. Ist es da nicht wohlfeil, gegen den Krieg zu sein und Gewaltlosigkeit zu predigen? Die Friedensbewegung, der ich mich zugehörig fühle, ist sich uneins in der Frage, ob die Ukraine mit Waffen unterstützt werden soll. Wie mit dem Dilemma leben, dass die Gewalt der Aggressoren mit friedlichen Mitteln nicht aufgehalten werden kann? „`S ist leider Krieg – und ich begehre nicht schuld daran zu sein“. Trotz alledem bleibt auch diese Aussage richtig: „Ich mahne unablässig zum Frieden; dieser, auch ein ungerechter, ist besser als der gerechteste Krieg“ (Cicero, römischer Politiker und Philosoph, 106 v. Chr. – 43 v. Chr.).


Politischer Aschermittwoch: Achtung, Achtung, hier ist die CSU!

So die Begrüßung durch Markus Söder beim heutigen politischen Aschermittwoch der CSU. Muss er vielleicht sagen, damit die bierseligen Gäste wissen, wo sie sind, nämlich in Bayern, in der „ampel- und wokenessfreien Zone“, wie Söder verkündet. Das ist zwar strunzdummer bullshit, aber Söder ist nicht blöd und weiß, dass beim politischen Aschermittwoch („der geilste Termin des Jahres“) die niederen Instinkte und Gefühle der Parteibasis bedient werden müssen. Dazu gehören auch Forderungen wie „Die Ampel muss weg“ oder „Wir wollen keine Grünen in der nächsten Bundesregierung“. Da gibt es schon mal eine gehörige Schnittmenge mit der AfD, gell Herr Söder? Aber die AfD, das sei der Fairness halber gesagt,  kriegt bei seiner Rede im Bierzelt auch ihr Fett weg – wenn auch viel weniger als die Grünen.

Die AfD zelebriert ihren politischen Aschermittwoch in Greding und meint: „Wer Deutschland nicht liebt, der kann jetzt schon Deutschland verlassen!“ Oder sowas hier: „Die Grünen schreiben uns vor, Käfer und Ungeziefer zu essen fürs Klima“ (Stephan Brandner, Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion). Das hat übrigens Söder auch schon bei anderen Gelegenheiten behauptet. Oder war es der Aiwanger Hubert? Herbert Wehner hätte dazu gesagt: Das war schon früher Quatsch und ist heute noch Quätscher. Für die FDP sprach Marie-Agnes Strack-Zimmermann in Dingolfing, bei jedem Applaus von einem karnevalesken Tusch begleitet. Die permanenten Wortmeldungen von Strack-Zimmermann zu jedem beliebigen Thema können einen auch aus Deutschland hinaustreiben.

Und was hört man von den Grünen? Sie mussten ihre Veranstaltung zum politischen Aschermittwoch in Biberach wegen der Blockierung von Zufahrtswegen, aggressiven Aktionen gegen die Polizei und Sicherheitsproblemen bei Demonstrationen im Umfeld absagen. Von einer demokratischen Streit- und Protestkultur scheint sich dieses Land mehr und mehr zu entfernen.

Der Aschermittwoch bedeutet in der christlichen Tradition den Beginn der 40tägigen Fastenzeit. Meine Empfehlung an alle Parteien: Verzichtet auf die politischen Aschermittwochsveranstaltungen mit überflüssigen Stammtischparolen und verordnet Euch selbst eine 40tägige Abstinenz von dummdreisten Sprüchen wie: „Schweinsbraten und Leberkäs haben in Bayern Verfassungsrang“ (Originalton Söder). Hört auf damit, das politische und soziale Klima zu vergiften. Der demokratische Zusammenhalt ist in diesen Tagen gefragt, nicht die grobe Holzerei bei politischen Stammtischen.

Das war übrigens mein Redebeitrag zum politischen Aschermittwoch am heimischen Familientisch. Aber wahrscheinlich hört mal wieder niemand zu.


Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit

Dieser Text knüpft an das Thema meines letzten Blogbeitrags an („Aufstehen gegen den rechten Sumpf“) und stellt die Frage: Wie umgehen mit den vielen schlechten Nachrichten, die uns in diesen Tagen bedrücken? Es ist ja nicht allein das erschreckende Wiedererstarken des Rechtsextremismus. Russland bombardiert unvermindert zivile Ziele in der Ukraine. In Gaza wurden, nach dem entsetzlichen Massaker der Hamas in Israel, seit Beginn der israelischen Militäroffensive zwei Drittel der Häuser zerstört, 1,7Millionen Menschen (80 % der Bevölkerung) vertrieben, mehr als 27.000 getötet, darunter überwiegend Frauen und Kinder. Lt. UNICEF haben mindestens 17.000 Kinder ihre Eltern verloren und sind alleine auf der Flucht. Die humanitäre Katastrophe, die sich in Gaza abspielt, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Und dann wären da noch die Kriege und Gewaltkonflikte im Jemen, in Myanmar, in Mali, im Sudan, in Somalia …

Wie also umgehen mit schlechten Nachrichten? Abschalten? Wegschauen? Ignorieren?  Nachrichtenmüdigkeit („news fatigue“) scheint gerade unter jungen Menschen zuzunehmen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen plädiert für die richtige Dosierung zwischen engagierter Anteilnahme am Weltgeschehen und Abgrenzung durch gezielte Auswahl von guten Nachrichtenquellen. Auf ZEIT online erscheint jede Woche neu die Rubrik „Nur gute Nachrichten und Inspirierendes zum Wochenende“. Ich mach mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt?

Viele Menschen, sofern sie nicht schon in resignative Gleichgültigkeit verfallen sind, fühlen sich verantwortlich, aber gleichzeitig ohnmächtig angesichts von Krieg, Umweltzerstörung, sozialer Ungleichheit, Diskriminierung von Minderheiten, rechtsextremistischen Parolen. Gemeinsam mit Gleichgesinnten auf die Straße gehen, seiner Empörung über gesellschaftliche Missstände Ausdruck verleihen kann helfen, wenn schon nicht die Missstände selbst aus der Welt zu schaffen, so doch aktiv zu werden und die empfundene Ohnmacht für eine kurze Zeit zu überwinden.

Der französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel hat mit seinem 2010 erschienen Essay „Indignez-vous! (Empört Euch!) zum politischen Widerstand aufgefordert: Gegen die Diskriminierung von Ausländern, gegen den Finanzkapitalismus, gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen eine verfehlte Umweltpolitik, gegen die israelische Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten. Wir wissen nicht, welche Anlässe zur Empörung Hessel heute nennen würde, wenn er noch lebte: Den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Das Erstarken des Rechtsextremismus in Europa? Die unterschiedslose Kriegsführung Israels gegen die Hamas und die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen? Die Unterdrückung der Opposition in Russland? Die wachsende Kluft zwischen Armut und Reichtum? Die Waffenlieferungen an die Ukraine?

Hessel war sich bewusst, dass die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse komplex sind und dass es keine einfachen Lösungen gibt. Gleichgültigkeit gegenüber den herrschenden Verhältnissen sei jedoch „das Schlimmste, was man sich und der Welt antun“ könne (Stéphane Hessel: Empört Euch! Ullstein Verlag 2011, S. 13). Gewarnt sei an dieser Stelle vor einer möglichen Verwechslung mit den so genannten „Wutbürgern“, jene vornehmlich gutbürgerlichen konservativen Personengruppen, die sich lautstark gegen unliebsame politische Entscheidungen richten und sich dabei nicht scheuen, mit rechtsextremen Gruppierungen zu marschieren und „wir sind das Volk“ oder „Lügenpresse“ zu gröhlen.

Über den Zorn, das Böse und die Habgier hat der Kabarettist Georg Schramm in einer – wie ich finde – Sternstunde des deutschen Kabaretts erklärt, dass der Zorn nicht mit der Wut verwechselt werden sollte. „Die Wut“, so Schramm, „ist die unbeherrschte zügellose Schwester des Zorns“. (Den Auftritt von Schramm kann man hier in voller Länge anschauen).

Mit dem Zorn und der Empörung gilt es allerdings sparsam umzugehen. Eine inflationäre Empörungsökonomie, bei der jede noch so banale Angelegenheit hysterische Schnappatmung erzeugt, führt dazu, dass die sich Empörenden nicht ernst genommen werden.Mein Zug ist schon wieder verspätet?  In Paris wird das Parken für SUVs richtig teuer? Superstar Taylor Swift kann mit ihrem Privatjet nicht zum Super Bowl fliegen, weil alle Parkplätze für Flugzeuge in der Umgebung belegt sind?

Hessel Aufruf „Empört Euch“ ist heute noch aktuell. Anlässe, die unsere Empörung und unseren Widerstand verdient haben, muss man nicht lange suchen. Hier meine persönlichen Empörungsempfehlungen der Woche: „In fünf Jahren müssen wir kriegstüchtig sein“, und: „EU-eigene Atombomben im Gespräch“.


Aufstehen gegen den brauen Sumpf

Vielleicht geht es Ihnen, liebe Leserin und Leser meines Blogs, so ähnlich: Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und politische Themen fordern dazu auf, sich damit auseinanderzusetzen. Der Gazakrieg, das Rechtsextremistentreffen in Potsdam, die Bezahlkarte für Geflüchtete, die Waffenlieferungen an die Ukraine, die Bauernproteste, die Bahnstreiks, die FDP-Blockade gegen das europäische Lieferkettengesetz, die Wahlen in den USA ….

Dauerbrenner und nicht nur tagesaktueller Aufreger ist das Erstarken rechtsextremer Gruppierungen und faschistischer Tendenzen in Deutschland und Europa. Auch an diesem Wochenende werden wieder Hunderttausende auf die Straßen gehen und unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ oder „WirSindDieBrandmauer“ gegen Rechts demonstrieren. Das ist ermutigend. Richtig ist aber auch, dass es einen langen Atem und kontinuierlichen Widerstand braucht, um den brauen Sumpf trockenzulegen.

Statt meine Gedanken zu diesen Entwicklungen in einem eigenen Beitrag zu formulieren, möchte ich heute auf den – überhaupt sehr empfehlenswerten – Blog von Prof. Dr. Claus Eurich verweisen:

Claus Eurich ist Philosoph, Publizist, Kontemplationslehrer und Professor für Kommunikation und Ethik (i.R.). Unter seinen letzten Blogbeiträgen möchte ich besonders zwei empfehlen, die sich mit dem Rechtsextremismus befassen, und ich erlaube mir, kurze Passagen daraus zu zitieren:

„Schwarzer Kairos“ vom 18. Januar 2024

„Wir haben einen Punkt erreicht, an dem spürbar wird, wie dünn die zivilisatorische Haut ist. Das zeigt sich besonders dann, wenn es um die eigenen materiellen und ideologischen Besitzstände geht bzw. das, was man dafür hält. Es zeigt sich, wenn das unbearbeitete und unerlöste eigene Innere sich in einer allgemeinen Unsicherheit und einem allgemeinen Missmut wütend und aggressiv nach Außen kehrt. Dann werden Sündenböcke herbeigeschrien – Migranten, Juden, alte weiße Männer und was alles noch der tumbe Flachsinn sich ausdenkt. Margot Friedländer, Jahrgang 1921, eine deutsche Holocaust-Überlebende und Humanistin im edelsten Sinne, mahnte kürzlich in einem Fernseh-Interview: „So hat es damals auch angefangen.“

„Täter wie uns“ vom 1. Februar 2024

„Nie wieder ist jetzt!“ Wie verhindert man, dass es jemals wieder solche Opfer gibt? Millionen Opfer durch industrielle Vernichtung von Menschen, tausende Opfer über Hass und Hetze im Alltag, Denunziantentum, korrupte Justiz und ihre Vollstrecker?
Für solche Opfer braucht es Täter – Täter wie uns.

Nein, es ist keine Blaupause des III. Reiches, was sich nun für Deutschland abzeichnet. Es ist ein neuer Hass, eine neue Hetze, eine neue Niedertracht und ein neues, immer noch gleichfalls dummes, ungebildetes, unaufgeklärtes Böses.
Man mag ja meinen, dass wir in einem Zeitalter des Wissenstransfers leben, in dem es nicht möglich ist, Menschen so zu manipulieren, wie vor 100 Jahren. Das stimmt nur zur Hälfte, denn man mag sich auch einmal anschauen, welche Art von Wissen ebenfalls in atemberaubender Geschwindigkeit verbreitet und als Wahrheit zur Kenntnis genommen wird.
„Nie wieder ist jetzt!“ wird nur ohne Täter sichergestellt – ohne Täter wie uns.