Sieben humanitäre Helfer in Gaza getötet: Tragischer Zwischenfall?
Veröffentlicht: 3. April 2024 Abgelegt unter: Humanitäre Hilfe, Internationale Politik, Krieg | Tags: Gaza, Israel Hinterlasse einen KommentarDie israelische Regierung hat im Zusammenhang mit den sieben getöteten Helfern der Hilfsorganisation World Central Kitchen von einem „tragischen Zwischenfall“ und einem „schweren Fehler“ gesprochen. Dem muss widersprochen werden. Es war weder ein tragischer Zwischenfall noch ein schwerer Fehler. Lt. UN wurden bisher mehr als 180 humanitäre Helfer im Verlaufe des Gaza-Krieges getötet. Es ist die Logik eines Krieges, der solche „Kollateralschäden“ bewusst in Kauf nimmt. Es ist die Logik einer Kriegsführung, die das humanitäre Völkerrecht missachtet, das zum Beispiel verlangt, dass die militärischen Notwendigkeiten bei der Kriegsführung das Prinzip der Menschlichkeit nicht außer Acht lassen dürfen. Dazu gehören u.a. der Schutz der Zivilbevölkerung und der humanitären Hilfsorganisationen. Der gleiche Vorwurf der Nichtbeachtung des humanitären Völkerrechts richtet sich an die Hamas. Seit dem brutalen Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der Ermordung von 1.200 schutzlosen Menschen in Israel führt das israelische Militär einen erbarmungslosen Krieg gegen die Hamas in Gaza. 30.000 Menschen wurden dabei bisher getötet. Alles Hamas-Terroristen? Wohl kaum. Ja, Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Aber so?
Die wenigen Bilder, die unsere Nachrichten erreichen, zeugen von unermesslichem Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, von flächendeckender Zerstörung, von Krankenhäusern, die nur noch Ruinen sind. Weil die Versorgungsstrukturen zusammengebrochen sind und zu wenig Nahrungsmittel nach Gaza gelangen, sterben Menschen an Hunger. Der Abwurf von Nahrungsmitteln aus der Luft, an dem sich auch die deutsche Bundeswehr beteiligt, ist angesichts der herrschenden Not ein fragwürdiges und ungeeignetes Unterfangen, weil die Hilfe so nicht bei denjenigen ankommt, die sie benötigen. Hilfsorganisationen kritisieren zu Recht, dass davon nur die Starken und Rücksichtslosen am Boden profitieren. Wer es schafft, abgeworfene Hilfsrationen zu ergattern, verkauft diese zu überhöhten Preisen auf dem Markt.
Dabei könnte man längst wissen: Schon während des Afghanistankrieges waren die airdrops, die Lebensmittelabwürfe aus der Luft, höchst umstritten. Nicht nur, weil die Pakete mit Propagandabotschaften des amerikanischen Militärs versehen waren, sondern auch, weil die gelben Päckchen der im Krieg gegen die Taliban eingesetzten Streumunition zum Verwechseln ähnlich sahen. Und weil das humanitäre Prinzip, dass die Hilfe nach der Bedürftigkeit der Notleidenden zu verteilen ist, damit nicht eingehalten werden kann. Zudem ist diese Art der Versorgung mit Hilfsgütern unvergleichlich teurer als über den Land- oder Seeweg.
Dabei könnte bei etwas gutem Willen aufseiten der israelischen Regierung die Versorgung mit humanitären Gütern auf dem Landweg sichergestellt werden. So aber nimmt man in Kauf, dass Menschen, die vor den Kriegshandlungen und Bombardierungen fliehen, nun an Hunger, Krankheiten und Erschöpfung sterben.
Während der Balkankriege in den 90er Jahren, aber verstärkt während des Nato-Einsatzes in Afghanistan, haben Hilfsorganisationen davor gewarnt, humanitäre Hilfe und militärische Operationen miteinander zu verknüpfen. Zivilmilitärische Zusammenarbeit hieß das, oder – euphemistischer und in der Diktion der Militärs – „vernetzte Sicherheit“. Damit war und ist ein Konzept gemeint, das humanitäre Hilfe und militärisches Handeln verknüpft, um Sicherheit herzustellen und zu gewährleisten. Zentraler Punkt der Kritik an diesem Konzept war und ist, dass humanitäre Hilfe – die prinzipiell unabhängig und neutral sein muss – und militärische Aktion nicht mehr unterscheidbar sind. Erst recht, wenn Militärs selbst als humanitäre Helfer agieren. Letztlich führt dies zu einer Gefährdung der humanitären Hilfsorganisationen und ihres Personals. Genau das ist nun in Gaza passiert, und es passiert an anderen Kriegsschauplätzen der Welt. Die Deklaration als „tragischer Zwischenfall“ ist irreführend.
Hinweis: Näheres zur Problematik der zivil-militärischen Kooperation in dem von mir mitherausgegebenen „Handbuch Humanitäre Hilfe“.
Armutszeugnis für ein reiches Land: Bundesregierung kürzt Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe
Veröffentlicht: 28. März 2024 Abgelegt unter: Entwicklungszusammenarbeit, Humanitäre Hilfe, Internationale Politik Ein KommentarFinanzminister Lindner will die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit weiter kürzen. Bereits im Bundeshaushalt 2024 wurden die Gelder für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe drastisch gekürzt. In diesem Jahr hat Deutschland gegenüber 2022 3,5 Milliarden Euro weniger für Armutsbekämpfung, Nothilfe und nachhaltige Entwicklung bereitgestellt. Im Vergleich zu 2023 wurde die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes um 20 Prozent, der BMZ-Etat um fast zehn Prozent gekürzt.
Selbst die CDU/CSU kritisierte die Kürzungen. Applaus gab und gibt es – Überraschung! – von der AfD. Die würde den Entwicklungsetat am liebsten ganz streichen. Sie ist der Meinungr, dass sowieso viel zu viel Geld für die Entwicklungshilfe ausgegeben wird, die „größtenteils wirkungsloser Nonsens ist“. Die widerwärtige und tumbe Polemik des AfD-Abgeordneten Dr. Michael Espendiller anlässlich der Bundestagsdebatte am 05.09.2023 kann man sich hier anhören (ab ca. Minute 22). Bei dieser Debatte ging es um die Kürzungen im Haushalt 2024. Nun kommt es noch dicker: Finanzminister Lindner fordert vom BMZ und seiner Ministerin Svenja Schulze für 2025 noch drastischere Kürzungen als bisher vorgesehen.
Knickt die Bundesregierung damit vor rechtspopulistischer Stimmungsmache gegen Hilfen für arme Länder ein? Germany first? Solidarität mit den unter Armut, Hunger, Kriegen und Konflikten sowie Klimakrisen leidenden Menschen ist offenbar unpopulär, die FDP fischt in braunen Gewässern ganz unverblümt um Wählerstimmen. Dabei ist „Solidarität mit denjenigen, die weltweit dringend Unterstützung benötigen, … kein Luxus, sondern ein essenzieller Beitrag für eine friedliche und gerechte Welt, von der unsere aller Zukunft abhängt“, so VENRO, der Verband Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe.
Lustige Kriegspropaganda im Kinderkanal: Ich bin ein (M)Arschflugkörper, hahaha!
Veröffentlicht: 16. März 2024 Abgelegt unter: Allgemein, Bundeswehr, Innenpolitik, Internationale Politik, Krieg, Pazifismus, Rüstung | Tags: Taurus Marschlugkörper Hinterlasse einen KommentarWir haben begriffen: Deutschland muss kriegstauglich werden! So der vorherrschende, wenig widersprochene Tenor in Medien, Talkshows, Bundestagsdebatten. Und hallo, ihr lieben Kleinen: Das gilt auch für euch!! Wenn Mama schon mal Notvorräte im Keller anlegt und Papa im Garten einen Schutzbunker baut, wenn Oma und Opa an die Bundeswehr spenden statt an Brot für die Welt oder Caritas, dann könnt ihr nicht weiter mit eurer Playmobil-Feuerwehr oder eurem Barbie-Modepüppchen spielen, als wenn nichts wäre. Nein: Jetzt wird aufgerüstet! Kriegsspielzeug gehört wieder in alle Kinderzimmer! Endlich dürft ihr wieder „Peng, du bist tot“ spielen, ohne dass die Kita-Tante im Stuhlkreis wieder gewaltfreie Kommunikation mit euch übt. Ihr dürft wieder im Sandkasten Krieg spielen und die Sandburg der blöden Susi zerstören. Abends vor dem Schlafengehen gibt es dann statt Sandmännchen im ZDF-Kinderprogramm „logo!“ dieses lustige Video über die „krasse Reichweite des Taurus-Marschflugkörpers“:
So schafft man kindgerechte Medienkompetenz, wie Günter Herkel in einem am 7. März bei verd.i veröffentlichen Artikel über Die „Militarisierung der Medien“ süffisant schreibt.
Kindersendungen als Kriegspropaganda: Soweit sind wir also schon. Wer nicht in den allgemeinen Sound der Kriegsrhetorik – „mehr Waffen, bessere Waffen, mehr Munition, damit die Ukraine den Krieg gewinnt“ – einstimmt, wird als Putin-Versteher diffamiert oder als realitätsferner Pazifismusträumer belächelt. In der kürzlichen Bundestagsdebatte über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern hat es der SPD-Abgeordnete Rolf Mützenich gewagt zu sagen, man möge doch nicht nur darüber nachdenken, wie man einen Krieg führt, sondern auch, wie man ihn einfrieren und danach beenden könnte. Das brachte ihm nicht nur verständnisloses Kopfschütteln von Außenministerin Annalena Baerbock ein, sondern auch eine üble Beleidigung durch den ukrainischen Ex-Botschafter und heutigen Stellvertreter des ukrainischen Außenministers Andrij Melnyk, der Mützenich als den „widerlichsten Politiker Deutschlands“ bezeichnete.
Herr Melnyk: Sie sind offenbar nicht der kompetenteste Politiker der Ukraine.
Sign my rocket. Oder: Wie wir lernen, die Bombe zu lieben
Veröffentlicht: 29. Februar 2024 Abgelegt unter: Bundeswehr, Innenpolitik, Internationale Politik, Krieg, Rüstung | Tags: Aufrüstung, Rüstungsindustrie, Sozialleistungen Hinterlasse einen KommentarSchon gemerkt? Politiker gefallen sich zunehmend darin, Raketen, Haubitzen, Panzerkanonen zu streicheln. Und wir wollen hier nicht mit dem lächerlichen „Phallus-Symbol“-Hinweis kommen. Vielleicht im Falle von Putin, ok.
Mit glänzenden Augen ehrfurchtsvoll bei Rheinmetall glänzende Geschosse berühren – wie sich das wohl anfühlt? Der Kanzler tut es, die Grünen tun es, die FDP sowieso. Die CDU natürlich auch. Die SPD weiß noch nicht so recht, Saskia Esken und Rolf Mützenich sind dagegen, die Linke ist dagegen, die AfD auch. Der Kanzler neulich in seiner Videobotschaft: „Die wichtigsten Waffensysteme und vor allem auch Munition müssen kontinuierlich vom Band laufen.“ Der Grüne Anton Hofreiter (der fesche Toni mit der 60er-Jahre-Frisur) und die FDP-Tante und Talkshow-Königin MAS (man möchte den Namen eigentlich nicht mehr hören, aber sie quatscht einfach in jedes Mikro, das man ihr hinhält oder das einfach nur rumsteht): Die Beiden jedenfalls fordern in trauter Zweisamkeit den Taurus für die Ukraine.
Die zentrale Frage der Talkshows lautet in diesen Tagen: Butter oder Kanonen? Meinetwegen auch „Rente oder Rüstung“, um nicht den Nazisprech von Goebbels zu benutzen. Damit wir die nötige Aufrüstung finanzieren können, müsse der Sozialstaat Leistungen kürzen. Das meinte Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts IFO, kürzlich bei Maybrit Illner. Der Finanzminister freut sich und haut in der gleichen Sendung in die gleiche Kerbe: Die Sozialleistungen müssen für drei Jahre lang eingefroren werden. Böse Zungen behaupten, für Lindner sei der Ukrainekrieg willkommener Anlass, Sozialleistungen in Frage zu stellen. Die sollen mal arbeiten gehen! Leistung muss sich wieder lohnen! Lindner hat seinen ersten Porsche doch auch mit 20 gekauft! Auch Kanzler Scholz verkündet, dass wir, um den Wehretat zu finanzieren, an anderer Stelle kürzen müssen.
Also Umverteilung vom Sozialetat in den Rüstungshaushalt? Weil beides – hohe Sozialleistungen und Aufrüstung – nicht gleichzeitig finanzierbar sei? Die TAZ bestreitet diese Annahme und schreibt am 26.02.24 unter der Überschrift „Angriff auf den Sozialstaat“: „Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich Aufrüstung und Sozialstaat nicht gegenseitig ausschließen müssen. Im Kalten Krieg gab die BRD für den Wehretat zu Spitzenzeiten fast 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Trotzdem wurde damals der Sozialstaat rapide ausgebaut. Es ist offensichtlich also möglich, sowohl einen aufgeblähten Militärapparat als auch einen starken Sozialstaat zu finanzieren, ohne dass wir bluten müssen.“
Wir wissen nicht, wer recht hat: Clemens Fuest oder die TAZ. Ob also die für notwendig erachtete militärische Aufrüstung nur durch Kürzungen im sozialen Bereich möglich sein wird. Wenn das so kommen sollte, dann kann allen Empfängern von Sozialleistungen (in besseren Kreisen auch „Harzer“ genannt) nur empfohlen werden, statt ihr Geld für Schnaps und Zigaretten zu verjubeln, Aktien des Rüstungsherstellers Rheinmetall, dem TOP-Performer unter den DAX-Konzernen, zu kaufen.
Was ich persönlich an der Debatte vermisse, sind kreative Ideen, wie die Aufrüstung finanziert werden könnte, ohne die Sozialleistungen zu kürzen. Etwa durch neue Formen des bürgerschaftlichen Engagements! Die Bundesregierung könnte patriotisch gesinnten Bürgerinnen und Bürgern eine Beteiligung an der Aufrüstung ermöglichen, indem man etwa für die Patenschaft an einer persönlich signierten 155-Millimeter-Artilleriegranate die Kosten übernimmt – Stückpreis so um die 8.000 Euro. Das ist sogar für Harzer, wenn sie sich zu einer Gruppe zusammenschließen („Wir unter der Brücke“?), machbar. Wer will, kann auch mehrere Granaten bezahlen. Und wer ganz viel Kohle hat, könnte auch einen kompletten Kampfpanzer oder einen Taurus mit persönlicher Widmung finanzieren!
Boris Pistorius kann auf der Skala der beliebtesten Politiker zwar nicht mehr weiter aufsteigen. Aber Lindner, Scholz, Baerbock, Wagenknecht, Hofreiter und MAS könnten mit diesem Angebot ihre Popularität in ungeahnte Höhen treiben! Denkt mal drüber nach, Leute – bald sind wieder Wahlen!
PS: In einem früheren Beitrag auf diesen Blog hatten wir darauf hingewiesen, dass die Amerikaner uns kreativitätsmäßig mal wieder voraus sind: Über die Internetseite „Sign my rocket“
kann gegen eine Spende eine Artilleriegranate mit einer persönlichen Botschaft an die russischen Invasoren versehen werden: „Send your message to the russian invaders …You have a chance to send a greeting to orcs with your text written on an artillery shell. You will receive a photo a signed shell with your ordered text.“
Geht doch!
`S ist leider Krieg – und ich begehre nicht schuld daran zu sein
Veröffentlicht: 23. Februar 2024 Abgelegt unter: Bundeswehr, Internationale Politik, Krieg, Pazifismus, Rüstung | Tags: Gazakrieg, Krieg, Ukraine 2 Kommentare… so Matthias Claudius in seinem Kriegsgedicht von 1778. Und wir? Wie steht es mit unserer Unschuld an den Kriegen dieser Tage? Dabei meint das „wir“ hier nicht den eher unwahrscheinlichen Fall einer individuellen schuldhaften Verstrickung. Niemand von „uns“ ist für den Krieg, wir lehnen ihn ab, wir wünschen, dass endlich Friede sei. Wenn schon nicht Frieden, dann wenigstens Waffenstillstand. Niemand von uns greift zur Waffe und kämpft mit. Vielleicht sind wird indirekt beteiligt, weil unsere Wertpapierfonds gerade kräftig zulegen? Profitiert mein angeblich nachhaltiger Fonds etwa doch vom Krieg, weil Teile davon bei Rüstungsunternehmen angelegt sind (lässt sich leicht nachprüfen auf der Internetseite Faire Fonds)? Wer damit kein Problem hat – Kriegsgewinnler hin oder her – der möge seine Ersparnisse gleich komplett beim Rüstungsunternehmen Rheinmetall anlegen. Dessen Aktien schießen – man verzeihe mir dieses alberne Wortspiel – gerade durch die Decke. Seit der deutsche Panzerbauer ein neues Werk zur Herstellung von Artilleriemunition in der Ukraine plant – das war jüngst bei der Münchener Sicherheitskonferenz zu erfahren – ist die Aktie auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Während in diesen Tagen die Wachstumsprognosen für die deutsche Wirtschaft eher schlecht sind, trifft das für die Rüstungsindustrie nicht zu. „Frieden schaffen mit mehr Waffen“ – das scheint die allgemein akzeptierte Rechtfertigung dieser Tage zu sein, und sie geht quer durch Parteien, Kirchen und Wirtschaftsverbände. Wenn das so ist, dann wird der Kauf von Aktien der Rüstungsindustrie geradezu, weil Frieden schaffend, zur moralischen Verpflichtung.
Es ist leicht, gegen den Krieg zu sein. Wir sehnen uns nach Frieden und danach, am Krieg nicht schuld zu sein. Wir sitzen auf dem Sofa und würden am liebsten abschalten, wenn das Kriegsgeschehen wieder die Nachrichten beherrscht. Wir schütteln den Kopf über die zunehmende und aggressiver werdende Kriegsrhetorik in Politikerstatements und in den Talkshows. „Wir müssen kriegstauglich werden – aber leider wird das erst in fünf Jahren möglich sein …“ Es wird aufgerüstet, und das nicht nur verbal. Die Regierung will mehr Geld fürs Militär, es werden neue Rüstungsbetriebe eingeweiht, wir entsenden Kriegsschiffe in Krisenregionen.
Wir beteiligen uns am NATO-Manöver Quadriga 2024, dem größten seit dem Ende des Kalten Krieges. Vorbei die Zeiten des „Nie wieder Krieg“, als 1949 selbst ein Franz-Josef Strauß im Bundestag verlautete: „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen.“
Darüber, warum das friedliche Zusammenleben der Völker immer wieder durch neue Kriege unmöglich gemacht wird, haben sich seit dem Altertum Philosophen, Theologen, Historiker, Militärs, Politiker und Psychologen Gedanken gemacht. Sozialpsychologen wie Erich Fromm versuchten, die Ursachen von Kriegen in der Natur, in der Psyche des Menschen zu suchen. Also bei uns selbst? Die Bösen, das sind ja erst einmal die anderen, die autoritären Führer, die um des eigenen Machterhalts willen Krieg gegen das eigene Volk führen, die Kriegstreiber und Aggressoren im Kreml, die Gräueltäter und Vergewaltiger der Hamas, die gewalttätigen Siedler in der Westbank, die Scharfmacher in der israelischen Regierung, die am liebsten alle Palästinenser aus Gaza vertreiben wollen.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine jährt sich heute zum zweiten Mal. Ist es da nicht wohlfeil, gegen den Krieg zu sein und Gewaltlosigkeit zu predigen? Die Friedensbewegung, der ich mich zugehörig fühle, ist sich uneins in der Frage, ob die Ukraine mit Waffen unterstützt werden soll. Wie mit dem Dilemma leben, dass die Gewalt der Aggressoren mit friedlichen Mitteln nicht aufgehalten werden kann? „`S ist leider Krieg – und ich begehre nicht schuld daran zu sein“. Trotz alledem bleibt auch diese Aussage richtig: „Ich mahne unablässig zum Frieden; dieser, auch ein ungerechter, ist besser als der gerechteste Krieg“ (Cicero, römischer Politiker und Philosoph, 106 v. Chr. – 43 v. Chr.).
Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit
Veröffentlicht: 13. Februar 2024 Abgelegt unter: Bundeswehr, Gesellschaft, Internationale Politik, Krieg, Rüstung | Tags: Gaza, Nahostkonflikt, Rechtsextremismus, Ukrainekrieg Ein KommentarDieser Text knüpft an das Thema meines letzten Blogbeitrags an („Aufstehen gegen den rechten Sumpf“) und stellt die Frage: Wie umgehen mit den vielen schlechten Nachrichten, die uns in diesen Tagen bedrücken? Es ist ja nicht allein das erschreckende Wiedererstarken des Rechtsextremismus. Russland bombardiert unvermindert zivile Ziele in der Ukraine. In Gaza wurden, nach dem entsetzlichen Massaker der Hamas in Israel, seit Beginn der israelischen Militäroffensive zwei Drittel der Häuser zerstört, 1,7Millionen Menschen (80 % der Bevölkerung) vertrieben, mehr als 27.000 getötet, darunter überwiegend Frauen und Kinder. Lt. UNICEF haben mindestens 17.000 Kinder ihre Eltern verloren und sind alleine auf der Flucht. Die humanitäre Katastrophe, die sich in Gaza abspielt, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Und dann wären da noch die Kriege und Gewaltkonflikte im Jemen, in Myanmar, in Mali, im Sudan, in Somalia …
Wie also umgehen mit schlechten Nachrichten? Abschalten? Wegschauen? Ignorieren? Nachrichtenmüdigkeit („news fatigue“) scheint gerade unter jungen Menschen zuzunehmen. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen plädiert für die richtige Dosierung zwischen engagierter Anteilnahme am Weltgeschehen und Abgrenzung durch gezielte Auswahl von guten Nachrichtenquellen. Auf ZEIT online erscheint jede Woche neu die Rubrik „Nur gute Nachrichten und Inspirierendes zum Wochenende“. Ich mach mir die Welt widdewidde wie sie mir gefällt?
Viele Menschen, sofern sie nicht schon in resignative Gleichgültigkeit verfallen sind, fühlen sich verantwortlich, aber gleichzeitig ohnmächtig angesichts von Krieg, Umweltzerstörung, sozialer Ungleichheit, Diskriminierung von Minderheiten, rechtsextremistischen Parolen. Gemeinsam mit Gleichgesinnten auf die Straße gehen, seiner Empörung über gesellschaftliche Missstände Ausdruck verleihen kann helfen, wenn schon nicht die Missstände selbst aus der Welt zu schaffen, so doch aktiv zu werden und die empfundene Ohnmacht für eine kurze Zeit zu überwinden.
Der französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel hat mit seinem 2010 erschienen Essay „Indignez-vous! (Empört Euch!) zum politischen Widerstand aufgefordert: Gegen die Diskriminierung von Ausländern, gegen den Finanzkapitalismus, gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen eine verfehlte Umweltpolitik, gegen die israelische Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten. Wir wissen nicht, welche Anlässe zur Empörung Hessel heute nennen würde, wenn er noch lebte: Den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Das Erstarken des Rechtsextremismus in Europa? Die unterschiedslose Kriegsführung Israels gegen die Hamas und die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen? Die Unterdrückung der Opposition in Russland? Die wachsende Kluft zwischen Armut und Reichtum? Die Waffenlieferungen an die Ukraine?
Hessel war sich bewusst, dass die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse komplex sind und dass es keine einfachen Lösungen gibt. Gleichgültigkeit gegenüber den herrschenden Verhältnissen sei jedoch „das Schlimmste, was man sich und der Welt antun“ könne (Stéphane Hessel: Empört Euch! Ullstein Verlag 2011, S. 13). Gewarnt sei an dieser Stelle vor einer möglichen Verwechslung mit den so genannten „Wutbürgern“, jene vornehmlich gutbürgerlichen konservativen Personengruppen, die sich lautstark gegen unliebsame politische Entscheidungen richten und sich dabei nicht scheuen, mit rechtsextremen Gruppierungen zu marschieren und „wir sind das Volk“ oder „Lügenpresse“ zu gröhlen.
Über den Zorn, das Böse und die Habgier hat der Kabarettist Georg Schramm in einer – wie ich finde – Sternstunde des deutschen Kabaretts erklärt, dass der Zorn nicht mit der Wut verwechselt werden sollte. „Die Wut“, so Schramm, „ist die unbeherrschte zügellose Schwester des Zorns“. (Den Auftritt von Schramm kann man hier in voller Länge anschauen).
Mit dem Zorn und der Empörung gilt es allerdings sparsam umzugehen. Eine inflationäre Empörungsökonomie, bei der jede noch so banale Angelegenheit hysterische Schnappatmung erzeugt, führt dazu, dass die sich Empörenden nicht ernst genommen werden.Mein Zug ist schon wieder verspätet? In Paris wird das Parken für SUVs richtig teuer? Superstar Taylor Swift kann mit ihrem Privatjet nicht zum Super Bowl fliegen, weil alle Parkplätze für Flugzeuge in der Umgebung belegt sind?
Hessel Aufruf „Empört Euch“ ist heute noch aktuell. Anlässe, die unsere Empörung und unseren Widerstand verdient haben, muss man nicht lange suchen. Hier meine persönlichen Empörungsempfehlungen der Woche: „In fünf Jahren müssen wir kriegstüchtig sein“, und: „EU-eigene Atombomben im Gespräch“.
Weltklimakonferenz in Dubai: Zivilgesellschaft fordert Kurskorrektur
Veröffentlicht: 4. Dezember 2023 Abgelegt unter: Gesellschaft, Internationale Politik, Klimawandel, Wirtschaft, Wissenschaft | Tags: COP, Klimawandel, Weltklimakonferenz Hinterlasse einen KommentarDerzeit findet die 28. Weltklimakonferenz COP (Conference of the Parties) in Dubai / Vereinigte Arabische Emirate (VAE) statt. Man kann an diesen Konferenzen vieles kritisieren: Alle Beschlüsse müssen einstimmig gefasst werden, am Ende steht also immer ein Minimalkonsens. Zudem handelt es sich um Absichtserklärungen, bei Nichteinhaltung drohen keine Sanktionen. Der CO2-Fussabdruck der Konferenz selbst ist bei 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gewaltig. Die COP28 ist auch wegen des Gastlandes VAE umstritten: Ein Staat, der nicht gerade für seine demokratischen Freiheiten oder für ein klimafreundliches Wirtschaftsmodell bekannt ist. Ein Land, dessen exzessiver Reichtum auf dem Verkauf fossiler Energieträger wie Öl und Gas beruht. Die VAE haben mit 21,8 t pro Kopf (2021) einen der weltweit höchsten CO2-Emissionen. Der weltweite Durchschnitt liegt bei 4,69 Tonnen pro Kopf. Und schließlich die „Bock-zum-Gärtner“-Kritik: Offizieller Gastgeber und Präsident der Konferenz ist Sultan Ahmed Al-Dschaber, der Chef des staatlichen Ölkonzerns Adnoc. Dazu Greenpeace-Chef Martin Kaiser: „Das ist so, als ob das Umweltbundesamt vom Chef von VW geleitet würde“. Statt des VW-Chefs wäre mir da eher Donald Trump eingefallen. Oder Volker Wissing. Aber egal. Wenn die Konferenz Vorschläge entwickeln soll, wie der Anteil fossiler Energieträger reduziert werden kann, dann ist nicht zu erwarten, dass ausgerechnet der Gastgeber dabei die treibende Kraft ist. Claudia Kempfert, Klima-Expertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), vermutet, dass der Sultan „alles verhindert wird, was eigentlich notwendig ist“.
Wie dringend ein Kurswechsel ist, zeigen die jüngsten alarmierenden Zahlen des Zwischenstaatlichen Sachverständigenrats für Klimaänderungen (Intergouvernemental Panel on Climate Change, IPCC). Danach ist die globale Durchschnittstemperatur allein von 2011 bis 2020 bereits um 1,1 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau gestiegen. 2023 wird wohl das bisher wärmste gemessene Jahr in der Geschichte werden. Inzwischen rechnen Klimaforscher damit, dass die globale Temperatur bis Ende dieses Jahrhunderts selbst dann um 2,5 bis 2,9 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit steigt, wenn die Staaten ihre jeweiligen Ziele zur Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen einhalten.
Die Bundesregierung bekommt für ihre halbherzige Klimapolitik weder von deutschen Gerichten noch von zivilgesellschaftlichen Organisationen ein gutes Zeugnis ausgestellt. Der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO) hat zusammen mit der Klimaallianz Deutschland anlässlich der COP28 Forderungen an die Bundesregierung formuliert: „Kurskorrektur für den Klimaschutz“. Darin fordern die Herausgeber die Bundesregierung auf, „sich aktiv für eine zügige Umsetzung und angemessene Finanzierung des Fonds für klimabedingte Schäden und Verluste einzusetzen. Ebenso muss die Bundesregierung darauf hinwirken, dass die Weltklimakonferenz einen gerechten Ausstieg aus fossilen Brennstoffen vereinbart. Um die 1,5-Grad-Grenze zu halten, ist eine Einigung über den Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen auf der diesjährigen Konferenz entscheidend.“
Nachtrag: Heute wird berichtet, der Sultan Al-Dschaber halte den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern für unnötig. Quod erat demonstrandum.
Asyl- und Migrationsdebatte: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Veröffentlicht: 9. November 2023 Abgelegt unter: Flüchtlinge, Gesellschaft, Innenpolitik, Internationale Politik | Tags: Asyl, Migration 3 KommentareEs ist erschreckend, wie sich derzeit Vertreter/innen nahezu aller Parteien überbieten mit Vorschlägen, wie man angeblich den Zuzug von Asylbewerbern und Migranten begrenzen könne: Leistungen kürzen, Bezahlkarte einführen, Bürgergeld erst nach 36 statt nach 18 Monaten, schärfere Kontrollen an den Grenzen, Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitern, Asylverfahren in Drittländer auslagern, Abschiebungen im großen Stil (Scholz). Je schriller, desto besser. Weder Recht und Gesetz (Asylrecht, Genfer Flüchtlingskonvention, Menschenrechte) noch Fakten scheinen die Marktschreier des Überbietungswettbewerbs zu interessieren. Die AfD lässt grüßen!
Angst und Panik schüren scheinen den Ton der politischen Debatte zu bestimmen. Man fürchtet, dass die Stimmung im Land kippt. Mit restriktiven Maßnahmen soll der Zuzug von Flüchtlingen gesenkt, Abschiebungen sollen verstärkt werden. Dabei ist es höchst fraglich, ob mit den diskutierten Maßnahmen die erhoffte Wirkung, nämlich eine deutliche Reduzierung der Flüchtlingszahlen, wirklich erreicht wird.
Es soll hier nicht einem unkontrollierten und unbegrenzten Zuzug a la „no borders“ das Wort geredet werden. Aber etwas mehr Sachlichkeit und weniger Populismus würde der Diskussion guttun. Denn: Im Umgang mit Flucht und Migration gibt es nun mal keine einfachen Lösungen! Ein Blick auf die Fakten kann das verdeutlichen.
Flucht und Migration weltweit
Mindestens 108,4 Millionen Menschen auf der ganzen Welt waren Ende 2022 gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Davon waren 35,3 Millionen Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention, also Menschen, die eine internationale Grenze überquert haben. Sie suchen überwiegend Schutz in angrenzenden Nachbarländern. Ein noch größerer Teil – 62,5 Millionen Menschen oder 58 Prozent – waren innerhalb ihrer Heimatländer aufgrund von Konflikten und Gewalt auf der Flucht.
Wie viele Flüchtlinge kommen nach Europa?
Von den 35,3 Millionen Flüchtlingen weltweit kommen die wenigsten nach Europa und nach Deutschland. Allerdings sind die Zahlen 2023 ansteigend. So stellten im ersten Halbjahr 2023 in der EU 519.000 Menschen einen Antrag auf Asyl, ein Anstieg von 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Darüber hinaus genießen aktuell rund vier Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die wegen einer Sonderregel kein Asyl beantragen müssen, vorübergehenden Schutz, die meisten von ihnen kamen 2022. Im Gesamtjahr 2022 suchten rund 966.000 Menschen Asyl in der EU, der höchste Wert seit 2016.
Zur Einordnung: Nach Angaben der EU-Kommission lag 2022 der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung bei 1,5 Prozent.
Asylsuchende in Deutschland
In Deutschland wurden im ersten Halbjahr 2023 die meisten Asylanträge gestellt: Es waren 30 Prozent aller Anträge innerhalb der EU – und damit fast doppelt so viel wie in den nächstplatzierten Staaten Spanien (17 Prozent) und Frankreich (16 Prozent). Dahinter rangierte Österreich, dann Italien.
Im Vergleich zu Bevölkerungszahl sieht es aber anders aus: Während in der Bundesrepublik im Jahr 2022 auf 10.000 Einwohner 29 Anträge kamen, lag das Verhältnis in acht EU-Staaten teils weit darüber: etwa in Zypern (241) und Österreich (123).
Ende 2022 lebten etwa 3,1 Millionen Schutzsuchende in Deutschland, wobei der Großteil (2,25 Millionen) über einen anerkannten Schutzstatus verfügte. Die Gesamtzahl stieg gegenüber dem Vorjahr um 1,14 Millionen Personen, was den höchsten Zuwachs innerhalb eines Berichtsjahres seit Beginn der Statistik 2007 darstellt. Zurückzuführen ist das vor allem auf den russischen Angriffskrieg, weswegen 2022 rund 1,01 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer Schutz in Deutschland suchten.
Laut Ausländerzentralregister waren Ende 2022 insgesamt 304.308 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig, davon 248.145 mit einer Duldung.
Irreguläre Migration
Zwischen Januar und Ende August sind laut Bundespolizei mehr als 70.000 Menschen unerlaubt nach Deutschland eingereist. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es knapp 45.000.
Unerlaubt oder auch irregulär heißt, dass Menschen ohne Aufenthaltsrecht oder Duldung und ohne Kenntnis der Ausländerbehörden nach Deutschland kommen. Sowohl die unerlaubte Einreise als auch ein unerlaubter Aufenthalt sind grundsätzlich strafbar. Bei Asylsuchenden wird das Verfahren jedoch ausgesetzt, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist. Bei einer positiven Entscheidung wird es eingestellt.
Verstärkt kam es zuletzt zu unerlaubten Einreisen über Tschechien und Polen. Über Osteuropa verläuft vor allem die Westbalkan-Fluchtroute. Dort wurden im Jahr 2022 den EU-Grenzschützern von Frontex 145.600 irreguläre Grenzübertritte gemeldet, 136 Prozent mehr als 2021.
Risiko Flucht
Menschen, die auf irregulärem Weg nach Europa zu gelangen versuchen, gehen ein hohes Risiko ein. Zudem zahlen sie hohe Geldbeträge an Schleuser. Das erste Quartal 2023 war das tödlichste seit 2017, und bis zum 2. Oktober wurden allein in diesem Jahr im zentralen Mittelmeer 2.517 Menschen als tot oder vermisst gemeldet.
Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht aus aller Welt von Tragödien und dramatischen Zwischenfällen berichtet wird, sei es auf See oder auf Landwegen. Sie sind zu einer erschreckenden Normalität geworden. Diese Tragödien sind vermeidbar und die notwendige Reaktion kann nicht länger aufgeschoben werden. Die Rettung von Menschenleben ist keine Option. Sie ist eine rechtliche Verpflichtung. Sie ist ein moralischer Imperativ.
Fluchtursachen bekämpfen?
Wenn das so leicht wäre! Die Vorstellung, man müsse nur die Fluchtursachen konsequenter bekämpfen, dann würden weniger Menschen fliehen, ist naiv. Fluchtbewegungen hängen nun mal vor allem von Faktoren ab, die wir wenig oder gar nicht beeinflussen können. Menschen fliehen aus ihrer Heimat vor Krieg, Naturkatastrophen, Verfolgung und Vertreibung. Aber eben auch vor Armut und Hunger. Wir vergessen gerne, dass auch aus Europa im 19. Jahrhundert Menschen aufgrund von Hungersnöten auswanderten. Das enorme Wohlstandsgefälle zwischen armen und reichen Ländern – in großen Teilen Ergebnis von 500 Jahren Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus – ist eine der Hauptursachen für die weltweite Migration. Ehrlicherweise müssten wir uns eingestehen, dass die Wirtschaftsweise der Industrieländer mit hohem Ressourcenverbrauch zu dem wirtschaftlichen Ungleichgewicht in der Welt maßgeblich beiträgt. Gleiches gilt für die Verschärfung der Klimakatastrophe, an der wir erheblichen Anteil haben und die dazu beitragen wird, noch viel mehr Menschen aus den besonders betroffenen Ländern in die Flucht zu treiben.
Das Märchen vom Magnet Sozialstaat
Besonders beliebt ist in der Politik, aber auch an den deutschen Stammtischen, die These, dass die Zahlungen für Asylbewerber als Migrationsmagnet wirken. Ein Anreiz, den man abschalten müsse. Wissenschaftlich ist diese These nicht belegt. Asylbewerber bekommen in Deutschland in der Regel 410 Euro (für Alleinstehende); wenn sie in Erstaufnahmeeinrichtungen leben, noch weniger. Nach 18 Monaten haben Flüchtlinge Anspruch auf Bürgergeld, das wären dann 502 Euro. Glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass, wenn man diese Leistungen reduziert, weniger Flüchtlinge kommen? Abgesehen davon, dass eine Absenkung der Leistungen verfassungswidrig wäre. Noch abstruser ist die Behauptung, Flüchtlinge würden in großem Umfang Geld in ihre Heimatländer überweisen. Von 410 Euro? Echt jetzt? Um das zu verhindern, will die Bundesregierung Bargeldzahlungen durch Gutscheine oder ein Bezahlkarte ersetzen. Mehr Bürokratie mit null Effekt.
Asylrecht muss geschützt werden
Manche Beiträge in der aktuellen Diskussion zielen auf eine Einschränkung oder gar Abschaffung des Asylrechts. In Deutschland ist das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es in Artikel 16a. Es ist das einzige Grundrecht, das nur Ausländerinnen und Ausländern zusteht. Tatsächlich aber erhalten die meisten Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder einen eingeschränkten (subsidiären) Schutz. Das gilt für Menschen, denen in der Heimat etwa Folter, Todesstrafe oder willkürliche Gewalt in einem bewaffneten Konflikt drohen.
Kommunen sind überfordert
Es stimmt: Die Situation in vielen Kommunen ist schwierig. Dort, also ganz praktisch vor Ort, müssen die Herausforderungen bewältigt werden, die sich aus Zuwanderung, aber auch durch Fachkräftemangel, Wohnungsnot, Bildungs- und Pflegenotstand ergeben. Inflation, Klima- und Energiekrise verschärfen die Problematik. Aber: Je mehr Abschottung und Angst den Geist der Gesetze prägen, desto weniger „integrationsfähig“ ist die Aufnahmegesellschaft.
Fazit: „Das Spiel mit der Angst behindert eine sachliche Diskussion“,
das sagt Andrea Schlenker vom Deutschen Caritasverband. „Wäre das Spiel mit der Angst nicht so laut, könnten wir über die Herausforderungen sachlich reden, nachhaltige Lösungen suchen, welche die Schwächsten schützen und Verantwortung nicht an nationalen Grenzen enden lassen“, sagt sie. „Wir würden auch feststellen, dass wir von Vielfalt und Zuwanderung profitieren, ja, darauf angewiesen sind. Wenn wir gemeinsam – Eingewanderte wie Menschen, die schon länger in Deutschland leben – Verantwortung für unser Gemeinwesen übernehmen und ins Gespräch kommen, wird deutlich, wie sehr wir einander brauchen“.
Krieg in Nahost: „Kein Frieden ohne einen unabhängigen Palästinenserstaat“
Veröffentlicht: 24. Oktober 2023 Abgelegt unter: Internationale Politik, Krieg | Tags: Nahost-Konflikt Ein KommentarDer luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat es auf den Punkt gebracht: „Es wird keinen Frieden in Nahost geben ohne die Einrichtung eines unabhängigen Palästinenserstaates auf der Basis der Grenzen vor 1967 und die Nutzung Jerusalems als Hauptstadt von Israel und von Palästina“. Asselborn ist lange genug im Amt, um zu wissen, dass dieses Ziel an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft ist, wie zum Beispiel die Anerkennung des Existenzrechtes von Israel durch die arabische Welt und eine Ende des gegen Israel gerichteten Terrors, aber auch das Ende der Besatzung weiter Teile des Westjordanlandes und ein Abzug der illegalen, völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen.
Diese Lösung, die sogenannte „Zweistaatenlösung“, die mit dem Osloer Abkommen von 1993 in greifbare Nähe gerückt war, scheint gegenwärtig durch den grausamen Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel und die militärische Reaktion Israels mit Raketen auf Gaza und der vollständigen Blockade des Palästinensergebiets in weite Ferne gerückt. Sie war schon 1947 durch die Vereinten Nationen in ihren Teilungsplan vorgezeichnet und galt lange als der einzige Weg zu einer friedlichen Koexistenz zu kommen.
Vielleicht könnte aber gerade die gegenwärtige Eskalation des Konfliktes und der erneute Ausbruch der Gewalt dazu führen, die Zweistaatenlösung wieder ins Gespräch zu bringen? Die deutsche Außenministerin Analena Baerbock spricht sich zwar für die Zweistaatenlösung aus, lehnt aber einen humanitären Waffenstillstand, wie von UN-Generalsekretär Guterres und einigen europäischen Staaten wie Spanien, Slowenien und Irland gefordert, ab. Baerbock gestern beim europäischen Außenministertreffen in Luxemburg: „Es wird nur Frieden und Sicherheit für Israel und die Palästinenserinnen und Palästinenser geben, wenn der Terrorismus bekämpft wird“. Das muss kein Widerspruch zur Aussage ihres luxemburgischen Kollegen Asselborn sein. Es wäre aber wohltuend, auch von deutscher Seite solche klaren Worte – adressiert an die israelische Regierung – zu hören, statt der wiederkehrenden, aber nebulösen Floskel von der Sicherheit Israels als „deutsche Staatsräson“.
PS: Ich möchte in diesem Zusammenhang auf das in einem früheren Blogbeitrag bereits besprochene Buch von Muriel Asseburg hinweisen: Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München 2021. Es lohnt sich, gerade in diesen Tagen die Geschichte Palästinas nachzulesen und die Ursachen für die gegenwärtige Gewalteskalation zu verstehen.
Heiterkeit im Angesicht von Terror, Gewalt und Zerstörung?
Veröffentlicht: 15. Oktober 2023 Abgelegt unter: Allgemein, Gesellschaft, Internationale Politik | Tags: Gelassenheit, Heiterkeit, Krieg, Terror 4 KommentareSoll man, ja darf man in diesen Zeiten heiter sein? Axel Hacke hat ein Buch über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten geschrieben. Ein Auszug daraus ist in der ZEIT erschienen. Nett zu lesen, amüsant, aber auch ernst und zum Nachdenken anregend. Ich lese die Texte von Hacke, der eine gute Schreibe hat, meistens gern. Und was die Heiterkeit anbetrifft: Schon klar, dass man damit besser durch den Alltag kommt als mit Verbissenheit, Ärger, Zorn, Neid, Eifersucht, und was einen sonst noch an unguten Gefühlen und Gedanken beherrscht. Besonders vor schwierigen Gesprächen oder Sitzungen wie etwa im Gemeinderat, dem ich seit vielen Jahren angehöre, habe ich mir Heiterkeit und Gelassenheit – sozusagen „HeiGel“ – verordnet. Nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Leider gibt es HeiGel noch nicht rezeptfrei, es sei denn, man greift ersatzweise auf Alkohol, Cannabis oder Kokain zurück.
Mehr Heiterkeit in schwierigen Zeiten, oder „das Schwere leicht gesagt“, wie es der von mir geschätzte, verstorbene Kabarettist Hanns Dieter Hüsch in einem kleinen Büchlein schrieb. Wie aber heiter und gelassen bleiben angesichts der Ereignisse dieser Tage? Die entsetzliche Brutalität des Terrors der Hamas und die gnadenlose Reaktion Israels mit bisher 3.000 Toten auf beiden Seiten, ohne dass ein Ende der Gewalt absehbar ist, lässt einen sprachlos zurück. Historische Vergleiche sind meistens unpassend, und doch fallen einem der nationalsozialistische Holocaust, die Grausamkeiten im Vietnamkrieg, das Massaker von Screbreniza, die Terroranschläge vom 11. September 2001, der Angriffskrieg gegen die Ukraine ein. Es gibt Erklärungen für diese kollektiven Gewaltausbrüche, aber keine Rechtfertigungen. Hass, Rache, Vergeltung scheinen die vorherrschenden Gefühle der Akteure zu sein. Keine Spur von Heiterkeit, Gelassenheit oder gar Toleranz und Vergebung – das wären die Voraussetzungen, um Frieden zu schaffen und die Gewalt zu beenden. Kann man aber einer palästinensischen Familie, die unter der Besatzung Israels leidet, empfehlen, diese mit Gelassenheit und Heiterkeit zu ertragen? Oder der Mutter im Iran, deren Sohn/Tochter wegen Kritik am Mullahregime hingerichtet wird? Oder den Familien in der Ukraine, die ständig von Artilleriebeschuss bedroht sind und deren Kinder in Luftschutzkellern zur Schule gehen?
Hoffen auf Frieden, hoffen auf Einsicht, hoffen auf Toleranz, hoffen auf Vernunft: Wie geht das im Blick auf diese Meldungen aus den letzten Wochen (kein Anspruch auf Vollständigkeit):
- Klimafachleute zeichnen beim 13. Extremwetterkongress in Hamburg ein düsteres Bild für die Zukunft. Das 1,5-Prozent-Ziel von Paris ist gescheitert. Der Klimawandel setzt sich weitgehend ungebremst fort. Auf der Erde seien nicht mehr abwendbare massive Folgen zu erwarten.
- Die Zahl der Streubombenopfer hat einen Höchststand erreicht. Die meisten Opfer gab es in der Ukraine.
- In Deutschland landen 18 Millionen Tonnen Lebensmittel in der Tonne.
- In Afrika nimmt die klimabedingte Hungersnot zu.
- Russland verweigert ein neues Getreideabkommen.
- Das Artensterben geht weiter. Weltweit gefährden invasive Arten heimische Tiere und Pflanzen, warnt der Biodiversitätsrat. Die Krise verschärfe sich.
- In Deutschland werden immer mehr und immer größere Autos gebaut und verkauft.
- Saudische Grenzschützer erschießen Hunderte Migranten an der jemenitischen Grenze.
- Steigende Zustimmungswerte für die AfD.
- Im Mittelmeer sinkt das Flüchtlingsschiff Adriana mit rund 750 Menschen an Bord. Nur wenige überleben.
Ich bleibe ratlos zurück. Vielleicht ist, wenn schon nicht Heiterkeit, dann Melancholie und Traurigkeit das angemessene Gefühl für diese Tage.