Mein Hund, der Zeitgeist und ich (2)

Es ist wieder passiert. Gestern, beim Gassigehen mit dem Hund – in meinem Falle mehr freies Gelände und keine Gassen – sah ich ihn zu spät. Den Zeitgeist. Ich konnte nicht mehr die Richtung wechseln, er hatte mich bereits erspäht. Wahrscheinlich hätte er mir vorgeworfen, ihm aus dem Weg zu gehen, weil ich die Wahrheiten dieser Zeit nicht zur Kenntnis nehmen will. Er hat auch einen Hund, der Zeitgeist, ich hatte am 26.02.2024 schon davon berichtet.

Dem Zeitgeist sein Hund springt an mir hoch, und er sabbert, ist aber sonst ok. Meine Hündin freut sich tierisch, wenn sie ihn sieht. Ich hingegen freue mich nicht, denn der Zeitgeist geht mir auf die Nerven mit seinem Gelaber. Einwanderung in unsere Sozialsysteme. Fachkräfte kommen nicht in Schlauchbooten und so. Unsere Regierung tut mehr für die Flüchtlinge als für die eigene Bevölkerung. Jetzt kann man jedes Jahr sein Geschlecht wechseln. Das haben wir den Grünen zu verdanken. Bullshit halt.

Gestern also. Ich so: „Na, auch wieder unterwegs?“ (ich versuche es mit belanglosem Smalltalk). Er: „Ja, lange nicht mehr gesehen. Ich war im Urlaub. Drei Wochen Kreuzfahrt in der Karibik! Alles inklusive für knapp 5.000 Euro, inklusive Hin- und Rückflug. Echt mega!“ Ich: „Vielleicht ist der Preis so günstig, weil das Servicepersonal an Bord schlecht bezahlt wird, bei langen Arbeitszeiten?“ (Ich weiß inzwischen, womit ich ihn provozieren kann) Er so: „Dafür haben die Leute freie Kost und Logis an Bord. Das ist doch ein Traumjob, arbeiten auf einem Kreuzfahrtschiff, wo andere Urlaub machen!“ Ich wechsle das Thema. Zecken. Das beschäftigt alle Hundebesitzer und ist politisch unverfänglich. Ich: „Dieses Frühjahr ist es ganz besonders schlimm mit den Zecken. Der Winter war einfach zu mild. Hat Ihr Hund auch so viele Zecken?“ Er: „Ne, eigentlich nicht. Wir haben uns dieses megagute Zeckenhalsband besorgt. Made in Bangladesch!“ Mist, schon wieder ein heikles Thema. Mein erster Gedanke: Wahrscheinlich mit Kinderarbeit. Ich heuchle Überraschung: „Interessant. Wo gibt es das denn?“ Er: „Bei Amazon“. Ich (jetzt auf Krawall gebürstet): „Na dann können Sie ja beruhigt sein, keine Menschenrechtsverletzungen, die Mitarbeiter nach Tarif bezahlt, das LkSG eingehalten …“ Er: „LkSG?“ Ich: „Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Schon mal gehört? Das, wo die FDP mal wieder dagegen war. Die ist ja überhaupt gegen alles, was die kapitalistische Ausbeutung zu unterbinden versucht. Gegen mehr Klimaschutz. Gegen Geschwindigkeitsbeschränkung auf deutschen Autobahnen. Gegen das Bürgergeld, gegen Gendern, gegen höhere Steuern für Reiche, gegen die Kindergrundsicherung …“ Der Zeitgeist unterbricht mich: „An dieser Neiddebatte möchte ich mich nicht beteiligen. Sorry, ich muss weiter. Termin bei meinem Steuerberater. Die Kosten für die Kreuzfahrt kann ich vielleicht von der Steuer absetzen – jedenfalls ein Teil davon. Hab´per Video an zwei Dienstbesprechungen teilgenommen und nebenbei Homeoffice gemacht. Mal sehen, ob das was geht. Man sieht sich!“

Vielleicht muss ich doch mal meine Routen mit dem Hund ändern.


Bezahlkarte für Flüchtlinge: So werden Vorurteile gegen Migranten geschürt

Nun ist sie da, die Bezahlkarte für Flüchtlinge. Lange wurde in der Ampel darum gestritten. Jetzt hat man sich auf eine bundesweite Einführung geeinigt. Mit ihr werden viele Erwartungen verknüpft: Sie soll Fluchtanreize verringern, für weniger Verwaltungsaufwand sorgen, Überweisungen in die Herkunftsländer oder an Schlepper verhindern. Für die der Karte nachgesagte Abschreckungswirkung gibt es keine Belege. 460 Euro im Monat sind nun wirklich nicht der größte Anreiz, nach Deutschland zu kommen. Wie viel davon wohl für Schlepper und die Familie im Heimatland übrigbleibt, wenn die Lebensmittel für den Monat gekauft sind? Es bleibt ein schaler Geschmack. Nämlich dass hier Vorurteile gegen Flüchtlinge geschürt werden. Flüchtlinge unter Generalverdacht? Das ist Gift für das Zusammenleben und Nahrung für Fremdenfeindlichkeit. Die AfD lässt grüßen.


Asyl- und Migrationsdebatte: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?


Leberkäspflicht statt Asylrecht: So begrenzen wir die Zuwanderung

Derzeit kursieren viele originelle Vorschläge, wie wir die unkontrollierte Zuwanderung in unsere Sozialsysteme begrenzen könnten. Die europäische Agentur Frontex zum Beispiel, die für ihren sensiblen Umgang mit Flüchtlingen bekannt ist (illegale pushbacks, hihi), soll die Flüchtlinge schon auf dem Meer abfangen und am Betreten des europäischen Festlands hindern. Wenn´s denn sein muss, mit Schusswaffengebrauch, gell, Frau Beatrix von Strolch?

Was aber, wenn sie schon mal da sind, die Flüchtlinge? Dann muss man sie, Menschenrechte hin oder her, so behandeln, dass ihnen die Lust vergeht, hierzubleiben. Die bayerische FDP und der Söder Markus von der CSU haben nun fast zeitgleich (Wahlkampf in Bayern!) vorgeschlagen, die Flüchtlinge mit einer Chipkarte statt mit Bargeld auszustatten. Damit sollen sie Lebensmittel wie Leberkäs, Maggi Würzpaste und Weißwürste einkaufen können, aber keinen Alkohol. Denn mit den bar ausgezahlten Asylbewerberleistungen, so hört man aus stets gut unterrichteten Kreisen, kaufen sich die Flüchtlinge dicke Autos und Drogen, essen jeden Tag Kaviar und überweisen den Rest an ihre Großfamilie in Quagadougou. Was mit der Chipkarte endlich mal unterbunden würde.

Das ist aber sicher noch zu toppen, liebe bayerische CSU/FDP/AfDler, gell? Was haltet ihr von dem Vorschlag, um ganz Bayern einen Zaun zu ziehen, vollgehängt mit Leberkäs-Semmeln und Weißwürsten, sozusagen als Abschreckung? Alle, die ihren Ekel überwinden und trotzdem über den Zaun klettern, könnte man zwangsverpflichten, drei Tage das Oktoberfest zu besuchen, im Fernsehen Musikantenstadl und alle Eberhofer-Krimis anzuschauen und mindestens einmal mit Hubert Aiwanger und Markus Söder zum Weißwurstwettessen anzutreten.

Wenn sich das unter den Flüchtlingen rumspricht, wollen garantiert alle lieber nach Polen mit seiner Piss-Partei. Und wir hätten endlich unsere Ruhe.


Alle Menschen sind gleich. Einige sind (gl)reicher.

Dieser Tage bekommen wir vorgeführt: Für fünf reiche Abenteurer, die mit ihrem U-Boot auf dem Weg zur gesunkenen Titanic verschollen sind – ganz wichtige Exkursion! –  wird eine umfangreiche Such- und Rettungsaktion in Gang gesetzt. Die Medienberichterstattung dazu nimmt breiten Raum ein („Suchteams hörten Klopfgeräusche“). Vor wenigen Tagen sank ein Boot mit mehreren hundert Flüchtlingen vor der griechischen Küste unter den Augen der Grenzschutzagentur Frontex und der griechischen Küstenwache. Von vermuteten 750 Menschen an Bord konnten nur 78 gerettet werden. Selber schuld, erklären uns die Behörden, sie hätten Hilfen abgelehnt.

Wir hoffen, dass die fünf reichen Menschen aus dem verschollenen U-Boot gerettet werden. Die ertrunkenen Flüchtlinge? Hätten die mit einem vergleichbaren Aufwand nicht auch gerettet werden können? Vermutlich ein unzulässiger Vergleich, denn die Sache mit den Flüchtlingen, den Schleusern, der europäischen Asylpolitik, der Sicherung der europäischen Außengrenzen, Frontex, Pushbacks, das ist ja alles viel komplizierter. Fünf Reiche in einem vermissten U-Boot, das ist nicht so komplex und eine willkommene Story für die Medien.


Hej Flüchtlinge, tut mir jetzt echt Leid

Ich muss jetzt mal eine persönliche Botschaft an alle loswerden, die immer noch versuchen, nach Europa zu fliehen:

Liebe Flüchtlinge überall auf der Welt, estimados refugiados, dear refugies, chers réfugiés,

أيها اللاجئون الأعزاء,

tut mir jetzt irgendwie echt Leid, aber ich als Bewohner Europas muss euch klipp und klar sagen, dass jetzt aber mal Schluss ist mit der ungesteuerten Migration und den illegalen Grenzübertritten. Egal wo ihr gerade herkommt oder euch auf den Weg macht: Vergesst es! Bleibt zuhause! Bleibt wo der Pfeffer wächst! Wir machen jetzt unsere Außengrenzen dicht. So kann es ja nicht weitergehen. Und denkt bloß nicht, ihr müsst nur ein Schlauchboot besteigen und euch auf den Weg über das Mittelmeer machen, und dann kommen irgendwelche Gutmenschen und retten euch aus Seenot. Auch damit ist bald Schluss. Und wenn ihr es trotzdem versucht, dann seid ihr selber schuld, wenn ihr auf dem Meer ertrinkt oder in einem Lager mit Stacheldraht an unseren Außengrenzen landet, wo man euch gefangen hält, bis über euren Asylantrag entschieden ist. Die wenigsten von euch können doch tatsächliche Asylgründe vorbringen. Also so Sachen wie politische Verfolgung, Diskriminierung usw. Wenn ihr Glück habt und einen guten Anwalt (haha, kleiner Scherz), dann gehört ihr zu den drei oder vier Prozent, die als Flüchtlinge anerkannt werden und nach Europa reindürfen. Die meisten werden ziemlich schnell wieder in sichere Drittstaaten abgeschoben, pardon, wollte sagen, zurückgeführt. Mal ehrlich: Da, wo ihr herkommt, ist es doch relativ sicher, also stellt euch mal nicht so an! Bei uns ist auch nicht alles sicher. Erst gestern hat mir einer den Lack an meinem neuen SUV zerkratzt (wahrscheinlich ein Araber, die machen sowas ständig, wenn sie nicht gerade unsere Frauen belästigen). Wir können euch hier in Europa nicht alle durchfüttern. Die Einwanderung in unsere Sozialsysteme muss ein Ende haben!

Ok, ich weiß, bei euch zuhause gibt es keine Arbeit, ihr könnt eure Familie wegen der Dürre nicht mehr ernähren, es ist Krieg und überhaupt sind alle ziemlich arm. Das heißt aber doch nicht, dass wir unseren Wohlstand so einfach mit euch teilen können! Dann würden wir ja alle arm. Wir haben es schließlich auch nicht leicht und können uns nur noch zweimal im Jahr Urlaub leisten. In euren Ländern kann man übrigens schön Urlaub machen. Ihr habt so schöne Strände und die Getränke sind ganz billig! Wieso wollt ihr da alle weg? Gut, wir haben eure Länder in der Kolonialzeit und bis heute ausgebeutet, mit Sklaven gehandelt, eure Bodenschätze geraubt und so weiter. Das tut uns auch echt leid. Aber das ist Vergangenheit, Schwamm drüber.

Wir versprechen auch, in euren Ländern mehr für die Entwicklung zu tun und dafür Geld auszugeben. Nicht so viel wie für die Rüstung, aber ok. Wenn dann eure Regierungen oder Kleptokraten in den staatlichen Behörden das Geld einstreichen, dann ist das doch euer Problem! Wir können ja auch nichts dafür, dass eure Regierungen so wenig gegen die Korruption tun.  

Also sorry, echt jetzt, mal! أنا آسف , je suis désolé – ich hoffe auf euer Verständnis.

Euer mifühlender Europäer Jürgen


Festung Europa? Für eine humane Migrations- und Grenzpolitik

Zwei Gründe veranlassen mich, nach meinem Blogbeitrag vom 22. Mai 2023 „Wir müssen draußen bleiben. Die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes aus Europa“ erneut zur europäischen und deutschen Asylpolitik Stellung zu nehmen. Zu dem erwähnten Blogbeitrag gab es einige kritische Kommentare. Zum Beispiel hätte ich nicht die „brutale EU-Abschiebemaschinerie Frontex“ erwähnt und nicht gesagt, wie eine bessere Migrationspolitik aussehen könnte.

Der zweite Grund: Diese Woche, am Donnerstag, wollen die EU-Innenminister über die Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) beraten und den seit Jahren schwelenden Streit innerhalb der EU über die Behandlung und Verteilung von Asylsuchenden und Flüchtlingen beilegen.

Eines vorweg: Die Kritik, ich hätte die Praktiken von Frontex nicht erwähnt, stimmt insofern, als sie sich auf meine Ausführungen vom 22.05.2023 bezieht. Da ging es mir um andere Fragen zum Flüchtlingsschutz. Zu meiner Entlastung kann ich aber sagen: Beim Stöbern in meinem Archiv bin ich auf einen Gastbeitrag in der Mittelbayerischen Zeitung (die gibt es tatsächlich) gestoßen, den ich im April 2011 (!) publiziert habe unter der Überschrift: „Der Mythos von der Invasion“. Von dem, was ich dort vor zwölf Jahren geschrieben habe, muss ich eigentlich kein einziges Wort zurücknehmen.

Mehr als 100 Millionen weltweit auf der Flucht

Seitdem hat sich allerdings einiges geändert: Die Zahl der Menschen auf der Flucht hat sich lt. UNHCR seit 2012 mehr als verdoppelt und betrug Ende 2022 103 Millionen. Welchen Anteil an den Fluchtursachen (Kriege, politische Verfolgung, Klimawandel/Dürre, Armut, Hunger) unsere Lebens- und Wirtschaftsweise und unsere Außen- und Sicherheitspolitik haben, wäre ein eigenes Kapitel wert. Fakt ist: Mit den erhöhten weltweiten Fluchtbewegungen nimmt auch der Migrationsdruck nach Europa zu. Seit 2014 sind ca. 27.000 Menschen auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken. Die Staaten an den Außengrenzen der EU beklagen die fehlende Solidarität der Mitgliedsstaaten bei der Verteilung der ankommenden Flüchtlinge. Das Schengener Abkommen von 1985 und das Dubliner Übereinkommen von 1997 haben sich als ungeeignet erwiesen, eine humane europäische Asylpolitik und eine solidarische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas zu erreichen.

Aufnahmeland Deutschland

Die Zahl der Asylanträge in Deutschland war 2011 mit 53.347 auf einem vergleichsweise niedrigen Stand. Ein Höchststand wurde in den Jahren 2015 und 2016 mit zusammen rund 1,2 Millionen Asylanträgen erreicht. Seit 2020 (122.170 Anträge) ist die Zahl wieder deutlich ansteigend (2022 = 244.000 Anträge). In den ersten vier Monaten dieses Jahres haben in Deutschland 102.000 Menschen einen Asylantrag gestellt – das ist nochmals eine Steigerung um fast 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr.  In der EU hat Deutschland die meisten anerkannten Flüchtlinge (1,3 Mio). Für das Aufnahmeland Deutschland und für die Kommunen vor Ort, die die Flüchtlinge unterbringen und versorgen müssen, ist das zweifellos eine große Herausforderung. Trotzdem kann ich die diesbezügliche Hysterie, die derzeit die politische Debatte beherrscht, nicht teilen. In der Türkei leben bei gleicher Bevölkerungszahl dreimal so viele Flüchtlinge wie in Deutschland (3,8 Millionen), wenn auch unter sehr viel schlechteren Bedingungen. In meiner Wohngemeinde mit 1.500 Einwohnern leben aktuell 43 Flüchtlinge. Das sind rund drei Prozent. Meine Erfahrungen als Gemeinderat und im Rahmen ehrenamtlicher Flüchtlingshilfe zeigen, dass die damit einhergehenden Belastungen bisher keine Überforderungen unseres Gemeinwesens bedeuten. Niemand muss dafür persönliche Einschränkungen oder „Wohlstandseinbußen“ hinnehmen. Von einer „Das Boot ist voll-Mentalität“ kann keine Rede sein. Und selbst wenn wir uns einschränken müssten: Sollte es uns die Solidarität mit den Flüchtlingen nicht wert sein?

Der Flüchtlingsschutz darf nicht zur Disposition stehen

Damit soll nicht einer unbegrenzten Zuwanderung das Wort geredet werden. Zweifellos muss es Mechanismen und Verfahren geben, wie Menschen auf der Flucht, die den Weg nach Europa und Deutschland suchen, menschenwürdig und gerecht behandelt werden. Dabei sind rechtsstaatliche Prinzipien, das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Schutz der Flüchtlinge zu beachten. Genau diese Prinzipien werden aber durch die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in Frage gestellt bzw. außer Kraft gesetzt. Europa verabschiedet sich schleichend von der Genfer Flüchtlingskonvention. Europa und Deutschland, so der Tenor der vorherrschenden Debatte, müssen sich wirkungsvoller vor der unkontrollierten Zuwanderung schützen. Die Diskussion um eine Verschärfung und Einschränkung des Asylrechts bis hin zur Abschaffung des Flüchtlingsschutzes, wie sie aktuell wieder von konservativen gesellschaftlichen und politischen Kräften geführt wird, ist zum einen erschreckend und zum anderen nicht neu. Bereits in den frühen 1990er Jahren, als durch die Balkankriege viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wurde das Asylrecht in Deutschland durch den neu eingeführt Artikel 16a des Grundgesetzes eingeschränkt (der sog. „Asylkompromiss“).

Jetzt ist geplant, im Zuge der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) das Asylrecht weiter einzuschränken und die Flüchtlinge am Zutritt Europas zu hindern. Es ist nicht mehr nur die AfD, deren ausländerfeindliche Grundhaltung bekannt ist und die offenbar in der deutschen Bevölkerung in diesen Tagen verstärkt Zustimmung findet. Nein, auch die bürgerlich-konservativen Parteien wie CDU/CSU und FDP fordern schärfere Grenzkontrollen, Kürzung von Leistungen für Flüchtlinge, mehr Zurückweisungen und Abschiebungen in angeblich „sichere Drittstaaten“. Die schon jetzt völkerrechtswidrigen „Pushbacks“ an den europäischen Außengrenzen, die menschenunwürdige Inhaftierung von Flüchtlingen in Massenlagern wie in Griechenland, die gewaltsame Verhinderung der Seenotrettung von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer – all diese bereits existierenden Praktiken drohen durch die geplante Reform des Europäischen Asylsystems zur legalen oder stillschweigend akzeptierten Praxis zu werden.

Worum geht es bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)?

Eine gemeinsame Politik der EU zu Flucht und Asyl scheiterte bisher an unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsstaaten. Nun will die EU-Kommission schnellere Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen etablieren, verbunden mit eine Ausweitung des Konzepts sicherer Drittstaaten, einem schlechteren Rechtsschutz für die Flüchtlinge und deren Inhaftierung in Massenlagern an den europäischen Grenzen. Im Kern geht es bei der Reform darum, die Asylverfahren an die Außengrenzen Europas zu verlegen und die Flüchtlinge und Asylsuchenden möglichst am Betreten Europas zu hindern bzw. in die sogenannten „sicheren“ Herkunftsländer oder Drittstaaten abzuschieben.

Die Bundesregierung bricht den Koalitionsvertrag

Im Koalitionsvertrag der Regierung von 2021 heißt es: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden …Wir wollen bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU -Staaten. … Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.

Nun gibt es eine Kehrwendung: Die Ampel-Koalition will sich dem Vorschlag der EU-Kommission weitgehend anschließen. Das bedeutet – siehe oben: Mehr Abschiebungen, Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, Abkommen mit Drittstaaten. Am 27.03.2023 hat der Ausschuss für Inneres und Heimat des Bundestags eine öffentliche Anhörung zur Reform des GEAS durchgeführt (kann man hier nachlesen bzw. hören). Trotz teilweise sehr kritischer Stellungnahmen hat Innenministerin Nancy Faeser am 28. April 2023 die Position der Bundesregierung zur geplanten Reform des GEAS bekanntgegeben und, anders als noch im Koalitionsvertrag versprochen, deutlich gemacht, dass Deutschland das Reformvorhaben der EU-Kommission mit dem verpflichtenden Grenzverfahren unterstützen will. Damit ist zu befürchten, dass keine fairen Verfahren mehr möglich sein werden. Unter Hinweis auf die sogenannten „sicheren Drittstaaten“ können dann Asylanträge pauschal abgelehnt werden und Schutzsuchende ohne weitere Prüfung in einen Drittstaat abgeschoben werden. Damit wird der Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und des Asylrechts des Grundgesetzes unterlaufen.  

Und was meinen die Flüchtlingsorganisationen dazu?

In einem gemeinsamen Statement von über 50 Organisationen, darunter nahezu alle relevanten deutschen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, die großen Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Hilfsorganisationen, unter der Überschrift „Keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes“ wird die Bundesregierung aufgefordert, „ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst zu nehmen:

1. Für menschenwürdige und faire Asylverfahren: Keine verpflichtenden Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen!

2. Für Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union: Keine Absenkung der Anforderungen an “sichere Drittstaaten”!

3. Für echte Solidarität in der Flüchtlingsaufnahme: Keine Weiterführung des  gescheiterten Dublin-Systems!“

In einem offenen Brief kritisieren zahlreiche Prominente und Künstler die Asylpolitik der Bundesregierung. Und schließlich, ganz aktuell, regt sich nun auch massiver Widerstand bei den Grünen: In einem Brief an die Führungsriege der Partei äußern mehr als 700 Parteimitglieder ihre „Erschütterung“ über den Kurs der Bundesregierung in Sachen Asylpolitik.

Man darf gespannt sein, was am Donnerstag in Luxemburg entschieden wird und ob es überhaupt zu einer Einigung auf europäischer Ebene kommt. Eine gute und bessere Asylpolitik ist leider nicht zu erwarten. Heribert Prantl hat dazu in seiner Kolumne am 4. Juni 2023 geschrieben: „Es gibt eine Formel, die eine Schlüsselformel für gute, für bessere Pläne sein könnte: „Asyl ist für Menschen, die uns brauchen. Einwanderung ist für die Menschen, die wir brauchen.“ Es ist dies, es wäre dies der Grundgedanke für eine gute europäische Migrationspolitik. Es braucht eine respektierte Autorität, die sie propagiert.“

Und noch ein Zitat, hier aus dem Statement von Ärzte ohne Grenzen in der oben erwähnten öffentlichen Anhörung im Bundestagsausschuss für Inneres und Heimat vom 27.03.2023: „Die EU und ihre Mitgliedsstaaten stehen in den nächsten Monaten vor der Wahl: Entweder nehmen sie Schäden für das Leben und die Gesundheit von Menschen auf der Flucht weiterhin wissentlich in Kauf, um ihre Abschreckungs- und Externalisierungsstrategie weiter auszubauen. Oder sie leiten eine Abkehr von dieser Politik ein, hin zu einer humanen Migrations- und Grenzpolitik. Den europäischen Ländern mangelt es nicht an Wissen darüber, wie sie Migration und Flucht auf koordinierter Weise begegnen können, die Menschenwürde wahrt, das Funktionieren eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erleichtert und legale Wege stärkt.“

Eine andere Politik ist möglich. Man muss sie nur wollen.


Wir müssen draußen bleiben. Die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes aus Europa

Worum es bei diesem Blogbeitrag nicht geht: Um so existentielle Fragen wie die Heizungsdebatte (grotesk), um die Vetterleswirtschaft in Habecks Ministerium (dumm gelaufen), nicht um den Medienstar und vielzitierten Führer einer privaten Söldertruppe im Ukrainekrieg (seit wann gelten Kriegsverbrecher als seriöse Informationsquelle?) und schon gar nicht um Marie-Agnes Strack-Zimmermann (gähn) oder den Fraktionsführer der CDU/CSU Thorsten Frei (der sich offenbar die Haare regelmäßig in der Fritteuse wäscht – das muss ja irre viel Strom kosten!).

Nein, es geht um so etwas Nebensächliches wie das Schicksal von Millionen von Kriegs-, Klima- und Armutsflüchtlingen. Also gewissermaßen um Flüchtlingsschutz, äh, also wie Europa sich vor den Flüchtlingen schützen will.

Den Flüchtlingszustrom stoppen

Derzeit überbieten sich Politiker nahezu aller Parteien, auch der Grünen, mit Forderungen und Vorschlägen, wie man den Zustrom der Flüchtlinge nach Europa und Deutschland stoppen kann. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will eine schärfere EU-Asylpolitik und bekommt dafür – Achtung! – Beifall von ihrem Vorgänger Horst Seehofer. Es scheint große Einigkeit zu herrschen, dass man die Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU aufhalten will. Dort sollen sie in großen, menschenfeindlichen Massenunterkünften interniert werden, bis ihr Asylantrag im Schnellverfahren entschieden ist. „Die Guten, möglichst wenige, dürfen dann rein: die Schlechten, möglichst viele, sollen draußen bleiben“, so Heribert Prantl in seiner politischen Wochenschau vom 7.05.2023. Und damit man die abgewiesenen Flüchtlinge auch wieder loswird, sollen möglichst viele Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Oder man ködert afrikanische Staaten wie Ruanda, Senegal oder Tunesien mit „Entwicklungshilfe“, damit sie bei der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes mitmachen und zustimmen, abgewiesene Flüchtlinge in großer Zahl in ihren Ländern aufzunehmen.

Die Idee mit den sogenannten „Ankerzentren“ an den Außengrenzen – Anker steht für „Ankunft, Entscheidung, Rückführung“, die man eher der AfD zuordnet, wurde 2018 von Innenminister Seehofer und der Großen Koalition ins Spiel gebracht. Schon drei Jahre vorher, im Herbst 2015, entbrannte in Deutschland eine Debatte a lá „Immer mehr Flüchtlinge: Wie kann man sie stoppen?“ (Panorama-Sendung vom 29.10.2015. Schon damals hatte zum Beispiel Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gefordert, den Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland mit Transitzonen zu stoppen.

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“

Jetzt wird sogar von einer Sicherung der Außengrenzen mit Mauern und Zäunen gesprochen – die es teilweise ja schon gibt. Das bedeutet, Flüchtlinge sollen mit Gewalt daran gehindert werden, europäischen Boden zu betreten. Bis zum Schießbefehl an den Grenzen ist es dann nicht mehr weit. Wie das funktioniert, können sich die Europäer bei den Amis und ihrer Grenzsicherung zu Mexiko anschauen.

„Anfang 2023 sind Abschiebungen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten nun öffentlich das Dogma der EU-Migrationspolitik. In Deutschland kam die Ampel-Koalition nach einem Gipfel zu Ergebnissen, die entgegen der Koalitionsvereinbarungen stehen: Sie wollen mehr Abschiebungen, Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, Abkommen mit Drittstaaten, wie ein Dokument zeigt, das wir kürzlich veröffentlicht haben. Um mehr Abschiebungen durchzusetzen, hat Deutschland mittlerweile seit Anfang des Jahres einen eigenen Sonderbeauftragten.“ (Quelle: Frag den Staat)

 Von den Zuständen auf dem Mittelmeer, wo man keine Zäune errichten kann, erfährt die Öffentlichkeit immer weniger. „Die menschliche Katastrophe, die sich im Mittelmeer ereignet, ist nicht hinnehmbar“, sagte IOM-Generaldirektor Antonio Vitorino. Mehr als 20.000 Menschen seien seit 2014 auf der zentralen Mittelmeerroute ums Leben gekommen. Wie viele auf der Strecke tatsächlich sterben, ist unklar. Viele Leichen werden mutmaßlich nie geborgen.“ Tagesschau vom 12.04.2023). Gleichzeitig plant das deutsche Verkehrsministerium, die Seenotrettung weiter einzuschränken.

Und was treiben die „Migrations-Manager“ vom IPMPD?

Unbemerkt von der Öffentlichkeit und wenig transparent agiert im Hintergrund eine dubiose Organisation: Das „International Centre for Migration Policy Development (IPMPD)“. Laut einer Recherche des Blogs „Frag den Staat“* berät das IPMPD „Staaten im Hintergrund, schafft internationale Vernetzungen und wird auch selbst in Grenzregionen der EU aktiv …es unterstützt direkt und indirekt die Küstenwachen in Libyen, Marokko und Tunesien – Behörden, denen massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Damit hilft ICMPD dabei, die EU-Außengrenze nach Nordafrika zu verschieben. …ICMPD entwickelte Ideen für ein dubioses Asyl-Projekt in Deutschland mit. Involviert war dabei auch der mittlerweile untergetauchte Wirtschaftskriminelle Jan Marsalek“.

Unter anderem beschäftigt sich das ICMPD auch mit dem „Management von Leichen auf See“. Diese kalte Technokratensprache („Rückführung“ statt „Abschiebung“) spiegelt sich auch in dem Terminus „Migrationsdiplomatie“ wider: Gemeint ist schlicht und ergreifend „schneller und effizienter abschieben“. In diesem Geist berät das ICMPD die europäischen Regierungen, auch die deutsche. Der Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Konvention bleibt mehr und mehr auf der Strecke.

Die Erkenntnisse aus der Recherche von Frag den Staat hat Jan Böhmermann im ZDF-Magazin Royale am 19.05.2023 zum Thema gemacht – kann man sich bis 18.05.2024 noch hier anschauen.

*FragDenStaat ist die zentrale Anlaufstelle für Informationsfreiheit in Deutschland.


Russische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure in Deutschland nicht willkommen

Das russische Außenministerium will 400.000 Freiwillige für den Krieg gegen die Ukraine rekrutieren. „Echte Männer“, so heißt es in der Werbung, sollen sich bewerben. Gleichzeitig wirbt die Söldnergruppe Wagner auch um die gleiche Zielgruppe der Männer im „kriegsfähigen“ Alter. Das britische Verteidigungsministerium schreibt dazu, dass die russischen Behörden alles versuchen, um eine neue Zwangsmobilisierung hinauszuzögern.

Werbeplakat der russischen Armee zur Rekrutierung in St. Petersburg im Oktober 2022Olga Maltseva/AFP via Getty Images

Wie viele Männer sich dem freiwilligen oder unfreiwilligen Kriegsdienst verweigern, ist nicht bekannt. Aber: Russische Männer, die sich nicht am völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Unkraine beteiligen wollen, also Kriegsdienstverweigerer, Militärdienstentzieher und Deserteure, die in Deutschland Asyl suchen, werden vom Bundesamt für Migration (BAfM) abgelehnt. Trotz gegenteiliger Beteuerungen nahezu aller im Bundestag vertretenen politischen Parteien (außer AfD), dass man diesen Menschen Schutz und Asyl bieten muss, wehren die deutschen Behörden Asyl- und Visumsanträge ab. Das berichtet jetzt die Organisation Connection e.V. Weitere Infos dazu gibt es hier.

„Die deutsche Bundesregierung steht hier in der Pflicht“, so Rudi Friedrich von Connection e.V.  „Wer Hoffnungen sät, muss auch den notwendigen Schutz gewährleisten. Militärdienstentzieher, Deserteure und Kriegsdienstverweigerer brauchen einen Weg, um in die Europäische Union kommen zu können und sie brauchen Asyl!“

Weitere Informationen: Gemeinsam mit PRO ASYL hatte Connection e.V. vor wenigen Wochen eine ausführliche Analyse zur Situation von Kriegsdienstverweigerern, Militärdienstentziehern und Deserteuren aus Russland, Belarus und der Ukraine sowie zur Frage des Flüchtlingsschutzes vorgelegt.


Frieden ist möglich. Trotz alledem!

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei. Wenn hinten, weit, in der Ukraine, die Völker aufeinanderschlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man abends froh nach Haus, und segnet Fried und Friedenszeiten“.

Wer im Deutschunterricht aufgepasst hat, wird den Fehler in diesem Zitat aus Goethes Faust schnell bemerkt haben. Und, auch das darf man annehmen, ganz so froh wie die Bürger bei Goethe kehren wir abends nicht nach Haus. Mag auch der Krieg in der Ukraine uns nicht unmittelbar bedrohen, so ist er uns doch sehr nahe: In der Begegnung mit den ukrainischen Flüchtlingen, die bei uns Zuflucht suchen, in den drastisch gestiegenen Energiekosten, in dem allgemeinen „Kriegsgeschrei“ und dem Ruf nach immer mehr, immer stärkeren Waffen für die Ukraine. Für die Bundeswehr gibt es ein 100-Milliarden-Euro teures „Sondervermögen“ – man stelle sich mal vor, eine solche Summe würde für friedensfördernde Maßnahmen bereitgestellt. Restriktive Rüstungsexportpolitik war gestern. Der öffentliche Diskurs wird beherrscht von einer martialischen Kriegsrhetorik, von Sieg und Niederlage ist die Rede, gar von Vernichtung des Feindes, von Rückeroberungen, vollständiger Befreiung und militärischen Erfolgen. Wo sind dagegen die mäßigenden Stimmen aus der deutschen Politik, Wissenschaft und Publizistik, die für militärische und politische Deeskalation werben, für rhetorische Abrüstung, für eine neue Entspannungspolitik und für diplomatische Bemühungen? Beispielhaft erwähnt seien hier Jürgen Habermas in der SZ am 28.04.2022 (Das Dilemma des Westens), Andreas Zumach in der Pax_Zeit Nr. 3/22 (Ukraine – Wie weiter? Analyse eines Friedensjournalisten) oder Brigadegeneral a. D. Erich Vad, der sich im Handelsblatt vom 12.03.2022 gegen die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine aussprach.

Am 18. März veröffentlichte die Badische Zeitung eine von mir initiiere Anzeige unter der Überschrift „Frieden ist möglich! Europa braucht eine neue Sicherheitsarchitektur“. Viele Menschen hatten unterschrieben und die unverschämten Kosten von 3.000 Euro mitfinanziert. War das umsonst? Hätte man das Geld besser für Hilfspakete an die Ukraine verwenden sollen?

Nun ist mir eher zufällig ein aktueller Artikel von Jeffrey D. Sachs in die Hände gefallen: A Mediator´s Guide to Peace in Ukraine, erschienen am 5. Dezember 2022 im US-Nachrichtenportal „Common Dreams“, ins Deutsche übersetzt von David Goesmann. Sachs ist Ökonom und Professor an der Columbia University und wegen seiner neoliberalen Entwicklungskonzepte umstritten. 2007 hatte ich bei einem Treffen in Berlin Gelegenheit, mit ihm über sein Buch „Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt“ zu diskutieren.

Sachs konstatiert in seinem Beitrag „einen neuen Hoffnungsschimmer für ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine im Zuge von Verhandlungen“ und meint: „Es gibt vier Kernfragen, über die verhandelt werden muss: Die Souveränität und Sicherheit der Ukraine, die heikle Frage der Nato-Erweiterung, das Schicksal der Krim und die Zukunft des Donbass.“ Bemerkenswert an dem Artikel ist, dass nach Auffassung des Autors der Westen und die NATO durch ihre Politik während der letzten Jahre dazu beigetragen haben, den Konflikt mit Russland zu eskalieren, wie etwa die Absicht der NATO, „sich auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, was Russland im Schwarzen Meer vollständig einkreisen würde (wobei die Ukraine und Georgien zu den bestehenden Schwarzmeer-Nato-Mitgliedern Bulgarien, Rumänien und Türkei hinzukämen)“ sowie „den Hang der USA für Regimewechsel-Operationen gegen Regierungen, die es ablehnt (so auch in der Ukraine im Jahr 2014, als die USA am Sturz des damaligen prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch beteiligt waren).“ Auch durch die Ablehnung des Minsk-II-Abkommens von 2015 durch die ukrainische Führung haben die USA und der Westen aus der Sicht Russlands eine diplomatische Lösung des Konflikts verhindert, so Sachs.

Vergleichbare Kritik an der Expansionspolitik der NATO (siehe Karte) und an der Politik der ukrainischen Führung ist in Deutschland nahezu verstummt. Wer das westliche und von der medialen Berichterstattung geechote Narrativ über den Ukrainekrieg dennoch zu hinterfragen wagt, wird als „Putin-Versteher“ oder „Unterwerfungspazifist“ diffamiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das vieldiskutierte Buch von Richard David Precht und Harald Welzer: Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist (S. Fischer, 2022).

Aber zurück zu Sachs: „Der wichtigste Punkt für eine Vermittlung ist anzuerkennen, dass alle Parteien legitime Interessen haben und berechtigte Missstände zu beklagen haben. Russland ist zu Unrecht und gewaltsam in die Ukraine eingedrungen. Die USA haben unrechtmäßig den Sturz Janukowitschs im Jahr 2014 konspirativ gepusht und die Ukraine anschließend schwer bewaffnet, während sie die Nato-Erweiterung vorantrieben, um Russland im Schwarzen Meer einzukreisen. Nach dem Sturz Janukowitschs weigerten sich die ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj, das Minsk-II-Abkommen umzusetzen.

Der Frieden wird eintreten, wenn die USA von einer weiteren Nato-Erweiterung in Richtung der russischen Grenzen Abstand nehmen, Russland seine Streitkräfte aus der Ukraine abzieht und von der einseitigen Annexion ukrainischen Territoriums Abstand nimmt. Ebenso muss die Ukraine ihre Versuche beenden, die Krim zurückzuerobern, und den Minsk-II-Rahmen akzeptieren. Alle Parteien müssen sich bereit erklären, die souveränen Grenzen der Ukraine im Rahmen der UN-Charta zu sichern, garantiert durch den UN-Sicherheitsrat und andere Nationen.“

Hoffen wir, dass Sachs Recht behält mit seiner Prognose, dass „sich nun sowohl die USA als auch Russland vorsichtig an den Verhandlungstisch herantasten“ und dass die „Konturen einer erfolgreichen Mediation eigentlich klar (sind), ebenso wie die Grundlage für eine Friedensregelung.“

Unser Aufruf „Frieden ist möglich“ vom März 2022 bleibt aktuell.