Digitale Transformation: Zauberformel für eine schöne neue Welt?
Veröffentlicht: 28. September 2021 Abgelegt unter: Allgemein, Boulevard, Gesellschaft, Wirtschaft | Tags: digitale Transformation, Digitalisierung Hinterlasse einen KommentarDie digitale Transformation ist in aller Munde. In Anlehnung an Karl Valentin möchte man sagen: Alle reden von der Digitalisierung, aber keiner unternimmt etwas dagegen. Und keiner kann einem genau erklären, was damit eigentlich gemeint ist und wohin das am Ende führen soll. Hört sich auf jeden Fall schon mal ziemlich fortschrittlich an. Und das umso mehr, wenn wir es englisch aussprechen „Didschitel Transformäschn“. Genau genommen müsste es heißen „Digital Business Transformation“ – dann wird nämlich auch klar, dass es vor allem ums Geschäft geht. Sie, also die Digitalisierung, durchdringt mehr und mehr alle Lebensbereiche. Sie wird die Menschheit entscheidend voranbringen, heißt es. Die Wirtschaft kann ohne sie nicht mehr wachsen und sieht auf dem Weltmarkt alt aus. Die Parteien im Wahlkampf versprechen uns eine glückliche Zukunft durch Digitalisierung. In der neuen Regierung wird es wohl ein Ministerium für digitales Dingsbums geben. Ob dann alles besser wird? Wird die Armut in der Welt endlich verschwinden? Welche Zukunftsperspektiven wird die digitale Transformation für Millionen von Flüchtlingen eröffnen? Werden wir dem Klimawandel digital Einhalt gebieten? Auf jeden Fall wird telefonieren noch teurer werden, als es jetzt schon ist. Darauf kann man schon mal einen lassen.
Wer heute noch analog unterwegs ist – egal ob bei der Musik, bei der Zeitungslektüre oder beim Fernsehen, der oder die ist hoffnungslos von gestern. Bald werden Autos autonom fahren. Corona hat den digitalen Schulunterricht hervorgebracht. Gegen Schachcomputer sehen selbst Weltmeister alt aus. Alexa erfüllt unsere Wünsche digital. Nur beim Käse und beim Sex ist die analoge Variante noch recht verbreitet.
Das Gegenteil von digital ist analog. Analog kommt vom lateinischen aná -logos, was etwa heißt, der Vernunft entsprechend.
(Kleiner Exkurs: Oder könnte es etwa sein, dass analog sich am Ende von anal ableitet? Das Wort digital kannten die Römer zwar, aber nicht im heutigen Sinne. Digital, das zumindest wissen wir humanistisch Gebildeten, heißt erst mal so viel wie „mit dem Finger“. Die Digitalisierung ist, wie anfangs festgestellt, in aller Munde, während das Anale, also das, was sich auf den entsprechenden Körperausgang bezieht, eher tabu ist. Wenn wir zu denen gehören, die in der analen Phase zum Stuhlgang auf den Topf gezwungen wurden, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir im Erwachsenenleben ständig unter Verstopfung leiden. Dafür gibt es dann Kijimea Reizdarm Pro. Beim Stuhlgang Druck auszuüben ist sowieso kontraproduktiv. Aber das führt jetzt weg vom eigentlichen Thema. Heute muss der Nachwuchs gar keine anale Phase mehr durchlaufen, kann demzufolge auch keine anale Fixierung entwickeln, sondern ist als „digital native“ von Geburt an mit einem Facebook-, Youtube- und Twitter-Account ausgestattet und hat Zugriff auf die angesagtesten Online-games. Das Töpfchen der kleinen Scheißerle ist mit einem digitalen Sensor ausgestattet, der unmittelbar nach Vollzug des großen Geschäftes über eine Sonde im Stammhirn Glückshormone ausschüttet und den Spieltrieb enthemmt, wie auf der jüngsten gamescom in Köln zu erfahren war. Hinweis für alle digitalen Analphabeten unter meinen Blog-Abonnent*innen, die immer noch Halmafiguren auf dem Brett hin- und herschieben: Die gamescom ist das weltgrößte Event für die geilsten Computerspiele und hat es in den letzten Wochen geschafft, FEARTURE hinter Gitter zu bringen und den Vault zu öffnen. Epischer Loot erwartet uns! Alles klar?)
Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, anal oder digital, bzw. digitale Transformation. Von der Digitalisierung gehen große Hoffnungen aus. Die Künstliche Intelligenz (KI) zum Beispiel, ein Produkt der Digitalisierung, wird dem Menschen in Zukunft viele komplexe Denkaufgaben abnehmen. Mit der natürlichen Intelligenz und mit den komplexen Denkaufgaben sieht es bei der menschlichen Spezies nicht sonderlich gut aus, wenn wir mal von Albert Einstein und Joschka Fischer absehen. In meiner Lehrzeit hieß es noch, man solle das Denken den Pferden überlassen, die hätten die größeren Köpfe. Jetzt werden die Pferde durch die KI abgelöst. Die KI kann wahnsinnig schnell rechnen und eine irre große Zahl an Nachkommastellen der Zahl PI ausrechnen. Unsere Fundamentalkritik daran lautet: Wer zum Teufel braucht eigentlich so viele Nachkommastellen der Zahl PI? Im Grunde ist die KI doch strunzdumm und maximal in der Lage, eine 0 von einer 1 zu unterscheiden! Das reicht aber offensichtlich, um dem menschlichen Verstand überlegen zu sein. Eine bittere Erkenntnis.
Trotzdem wollen wir uns der digitalen Transformation nicht prinzipiell verweigern, wo immer sie uns demnächst über den Weg läuft. Vom „Internet of Things“, der „Blockchain“ oder den „Augmented-Reality-Solutions“ erwarten wir uns grundstürzende Lösungen bei unseren trivialen Alltagsfragen wie: Wo habe ich wieder den Autoschlüssel hingelegt? Wer bringt heute den Müll runter? Oder: Wie war nochmal das fucking Passwort beim online-banking?
Wir wollen natürlich nicht als Feind jeglichen Fortschritts dastehen. Digitalisierung muss wohl sein und selbige ist ja per se weder gut noch schlecht. Sie hat sich längst in unserem Leben breit gemacht. Auch dieser Blog führt ein digitales Dasein, selbst wenn die Beiträge dafür noch richtig oldschoolmäßig analog verfasst werden. Die Digitalisierung, so hören wir, ist ähnlich wie die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert, die Einführung der Dampfmaschine und damit der Beginn der industriellen Revolution im 18. Jahrhundert, die Elektrizität und die Jeans im 19. Jahrhundert, die Erfindung der Gummibärchen und der lenkbaren Bratkartoffel im 20. Jahrhundert und schließlich des Internets im 21. Jahrhundert ein Quantensprung der menschlichen Zivilisation. Lange davor gab es noch die Erfindung des Rads bzw. des Schießpulvers, beides zivilisatorische Errungenschaften, die es leichter machten, die Wirtschaft anzukurbeln, Sklavenhandel zu treiben und Kriege zu führen. Eine wichtige neue digitale Entwicklung sind bewaffneten Kampfdrohnen, mit deren Hilfe Kriegsgegner oder auch nur politisch unliebsame Menschen per Knopfdruck aus der Distanz liquidiert werden können, ohne sich selbst mit Blut zu besudeln – allenfalls noch sprichwörtlich.
Falls das jetzt zu polemisch rüberkam, hier noch ein paar Argumente pro Digitalisierung: Um den Kühlschrank aufzufüllen, genügt ein Blick auf die „Was ich noch einkaufen muss-App“. Während des Urlaubs auf den Fidschi-Inseln kann ich zuhause die Jalousien runterlassen – dafür muss ich dann nicht mehr die blöden Nachbarn bemühen. Das Auto fährt von alleine in die Garage, ohne Beulen und Schrammen. Unter der Stadtbahnbrücke lebende Obdachlose können ihren digitalen Sammelhut vor dem Supermarkt jederzeit per remote access auf deren Inhalt überprüfen – mit der „Haste mal ´nen Euro-App“, usw. Wen das nicht überzeugt, hier noch das ultimative Argument für die schöne neue Welt der digitalen Transformation: Die Wertschöpfungsketten der global operierenden Konzerne werden im digital age optimiert, neue Geschäftsmodelle und -chancen werden erschlossen, die performance, mit der sich Unternehmen in die zukünftigen Märkte wagen, wird verbessert. Dagegen kann man doch eigentlich nichts haben, oder? Wir wollen doch auch in Zukunft unsere Erdbeeren aus Chile zu Weihnachten auf dem Tisch haben!
Schweinestau: 750.000 Schweine in der Warteschlange
Veröffentlicht: 7. September 2021 Abgelegt unter: Allgemein, Boulevard, Wirtschaft | Tags: Julia Klöckner, Massentierhaltung, Schweinestau Hinterlasse einen Kommentar…das vermeldete kurz vor Weihnachten letztes Jahr die niedersächsische Agrarministerin Barbara Otte-Kinast. Für die Schweinezüchter eine Katastrophe, so die Ministerin unter Tränen. Es ist nicht bekannt, ob sich der Stau inzwischen aufgelöst hat.
Wie dem auch sei: Die Schweine sehen das vermutlich mit gemischten Gefühlen. Versetzen wir uns mal in deren Lage: Schlangestehen ist ja an sich schon nervig genug. In der Regel wartet aber am Ende etwas Erfreuliches: Die letzten Kinokarten, eine Corona-Impfung, der freigewordene Serviceschalter im Kundencenter der Bahn. Anders bei den Schweinen: Für sie wartet die Exekution mittels Betäubungspistole – im günstigsten Falle. Manchmal auch die eine oder andere brachiale Methode – siehe Horroraufnahmen aus Schweinemastbetrieben.
Und was meint die Zeitschrift „beef“, das Zentralorgan des Schlachterhandwerks und Kampfpostille für den Erhalt der deutschen Bratwurst dazu? Nichts. Stattdessen: „Wie grille ich mich ins Herz einer Frau?“. Das hilft den Schweinen auch nicht wirklich. Julia Klöckner, unsere Bundeslandwirtschaftsministerin, sieht sogar eine Mitschuld bei den Schweinehaltern. Hallo! Da hätte man eigentlich anderes von ihr erwartet. Zum Beispiel die Empfehlung, an Weihnachten mal über den Gänsebratenschatten zu springen und einen ordentlichen Schweinerollbraten zu servieren! Dann hätte sie allerdings flugs den Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) auf dem Hals. Vielleicht hilft aber auch die Afrikanische Schweinepest (ASP) beim Abbau des Schweinestaus.
Wir bleiben dran.
Nie wieder Krieg? Fragen eines Pazifisten
Veröffentlicht: 1. September 2021 Abgelegt unter: Allgemein, Gesellschaft, Innenpolitik, Internationale Politik, Krieg, Pazifismus | Tags: Antikriegstag, Krieg, Responsibility to Protect, Zivile Krisenprävention Ein KommentarAm 1. September wird in Deutschland jedes Jahr der Antikriegstag begangen. Mit diesem Gedenktag, der vom Deutschen Gewerkschaftsbund 1957 initiiert wurde, wird an den Beginn des Zweiten Weltkrieges und den Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen erinnert. Von den Vereinten Nationen wird seit 1981 der 21. September als Weltfriedenstag begangen. Ob Antikriegs- oder Weltfriedenstag: Wie realistisch oder utopisch ist der Wunsch nach oder die Vorstellung von einer Welt ohne Krieg? Ist ein radikaler Pazifismus mit seinem trotzigen „Nie wieder Krieg“-Slogan eine belächelte, romantisch-utopische, weltfremde Haltung, die sich weigert, die Realität anzuerkennen?
Zunächst zur Realität. Unter den aktuellen Kriegen – nach offizieller Zählung 21 – finden wir u.a. Afghanistan, Syrien, Jemen, Äthiopien, Südsudan, Mali, Ukraine, Kolumbien. Die Geschichte der Menschheit ist seit der Antike bis in die Gegenwart auch eine Geschichte von Kriegen. Ein Blick auf die lange Liste der Kriege etwa bei Wikipedia macht dies erschreckend deutlich. Die traumatischen Erfahrungen mit den verheerenden beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts haben nicht, wie von manchen erhofft, zu einer Ächtung des Krieges und zu einem weltweiten Konsens geführt, Konflikte ohne Gewalt zu lösen.
Schon 1924 brachte Käthe Kollwitz in dem berühmten Plakat den Wunsch nach „Nie wieder Krieg“ zum Ausdruck.
Das „Heidelberg Institute for International Conflict Research“ (HIIK) ermittelt jedes Jahr das weltweite Konfliktgeschehen im sog. Heidelberger Konfliktbarometer und unterscheidet dabei fünf Konfliktstufen (siehe Grafik):
Für die höchste Stufe 5, den Krieg, stellt das HIIK in seinem jüngsten Bericht für 2020 fest: „Compared to 2019, the overall number of full-scale wars increased from 15 to 21“ – also eine deutliche Steigerung bei der Anzahl der Kriege gegenüber dem Vorjahr. Auch wenn diese Zahlen von Jahr zu Jahr variieren, muss ernüchternd festgestellt werden, dass im langfristigen Trend nicht weniger, sondern eher mehr Kriege geführt werden. Es steht also ausgesprochen schlecht um den Weltfrieden.
Bleibt also der im „Nie wieder Krieg“ zum Ausdruck kommenden Wunsch eine Utopie und der Pazifismus eine Spielwiese für Realitätsverweigerer? Für eine persönliche Antwort auf diese Frage muss ich ein paar biografische Hintergründe bemühen. 1968, im Alter von 20 Jahren, stellte ich einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Damals musste man seine Gewissensentscheidung noch vor einem Ausschuss rechtfertigen und dümmliche Fragen beantworten wie: „Sie gehen mit Ihrer Freundin im Wald spazieren. Plötzlich kommen drei Russen und wollen Ihre Freundin vergewaltigen. Was tun Sie?“ Leider war ich damals nicht schlagfertig genug, um mit einer noch dümmlicheren Antwort zu parieren („Ich nehme meine Kalaschnikow, die ich bei solchen Gelegenheiten immer bei mir führe, und ratatatata…“). Ich erinnere die genaue Antwort nicht mehr, aber ich wurde als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Etwa zur gleichen Zeit hatte ich für das über den Zweiten Bildungsweg angestrebte Abitur das Thema „Christ und Kriegsdienstverweigerung“ als Abschlussarbeit gewählt, was zwangsläufig zu einer intensiven Beschäftigung mit so Sachen wie Gerechter Krieg, ius ad bellum, konstantinische Wende, Augustinus, usw. führte. Kriegsdienstverweigerer waren zum Ersatzdienst verpflichtet. In meinem Fall war das ein dreijähriger Einsatz im Entwicklungsdienst in Bolivien. Es war die Zeit linker Aufstandsbewegungen und rechter Militärputsche in Ländern wie Bolivien, Chile, Argentinien, später in Nicaragua und El Salvador. Das schürte erste Zweifel an meinem bis dahin lupenreinen Pazifismus. Wieviel Widerstand, zur Not auch mit Gewalt, gegen diktatorische Regime, gegen Unrecht und Unterdrückung, ist legitim? Eine Beendigung der Nazidiktatur und der Shoa wäre ohne militärische Intervention der Alliierten nicht möglich gewesen. In Belarus, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, konnte der friedliche, gewaltfreie Protest nicht zu einer Beendigung der Diktatur Lukaschenkos führen. Heute wird die Diskussion dazu unter dem Stichwort „responsibility to protect“ (Schutzverantwortung, abgekürzt R2P) geführt. Die R2P räumt im Falle, dass eine nationale Regierung die eigene Bevölkerung nicht vor Völkermord, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen vermag oder selbst Urheber der Menschrechtsverletzungen ist, der internationalen Gemeinschaft das Recht zur militärischen Intervention als ultima ratio ein.
Eine konsequent pazifistische Position müsste also das Konzept der R2P ablehnen, zumindest was den Teil der militärischen Intervention betrifft. Sie müsste aber dann die Frage beantworten, wie massive Menschenrechtsverletzungen ohne Gewalt verhindert oder beendet werden können. So richtig die Forderung nach einem Vorrang ziviler Krisenprävention sowohl in der deutschen Außenpolitik als auch in der internationalen Politik ist, so richtig ist es auch, dass gewaltfreie Ansätze nicht immer und überall geeignet sind, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern (Beispiel Genozid in Ruanda 1994). Diese Erkenntnis entbindet uns nicht von der Pflicht, alle gewaltfreien Mittel auszuschöpfen, bevor als letztes Mittel militärisch interveniert wird.
Die Waffenschmiede Heckler & Koch verkündete gestern, dass der Gewinn im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 50 % gesteigert werden konnte. Der Antikriegstag wäre doch mal ein guter Anlass, den Export von Waffen und Rüstungsgütern aus Deutschland zu verbieten.
Damit wären wir wieder auf dem Boden der Realität angelangt. Ich bleibe aber dabei, dass die Utopie des „Nie wieder Krieg“ ihre Berechtigung hat, und begründe dies mit einem Adorno-Zitat: „Empfindsam bleiben ist eine gleichsam utopische Haltung, die Sinne für ein Glück geschärft zu halten, das nicht kommen wird, jedoch uns im Bereitsein für es vor den ärgsten Verrohungen schützt“.