Sieben humanitäre Helfer in Gaza getötet: Tragischer Zwischenfall?

Die israelische Regierung hat im Zusammenhang mit den sieben getöteten Helfern der Hilfsorganisation World Central Kitchen von einem „tragischen Zwischenfall“ und einem „schweren Fehler“ gesprochen. Dem muss widersprochen werden. Es war weder ein tragischer Zwischenfall noch ein schwerer Fehler. Lt. UN wurden bisher mehr als 180 humanitäre Helfer im Verlaufe des Gaza-Krieges getötet. Es ist die Logik eines Krieges, der solche „Kollateralschäden“ bewusst in Kauf nimmt. Es ist die Logik einer Kriegsführung, die das humanitäre Völkerrecht missachtet, das zum Beispiel verlangt, dass die militärischen Notwendigkeiten bei der Kriegsführung das Prinzip der Menschlichkeit nicht außer Acht lassen dürfen. Dazu gehören u.a. der Schutz der Zivilbevölkerung und der humanitären Hilfsorganisationen.  Der gleiche Vorwurf der Nichtbeachtung des humanitären Völkerrechts richtet sich an die Hamas. Seit dem brutalen Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der Ermordung von 1.200 schutzlosen Menschen in Israel führt das israelische Militär einen erbarmungslosen Krieg gegen die Hamas in Gaza. 30.000 Menschen wurden dabei bisher getötet. Alles Hamas-Terroristen? Wohl kaum. Ja, Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Aber so?

Die wenigen Bilder, die unsere Nachrichten erreichen, zeugen von unermesslichem Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, von flächendeckender Zerstörung, von Krankenhäusern, die nur noch Ruinen sind. Weil die Versorgungsstrukturen zusammengebrochen sind und zu wenig Nahrungsmittel nach Gaza gelangen, sterben Menschen an Hunger. Der Abwurf von Nahrungsmitteln aus der Luft, an dem sich auch die deutsche Bundeswehr beteiligt, ist angesichts der herrschenden Not ein fragwürdiges und ungeeignetes Unterfangen, weil die Hilfe so nicht bei denjenigen ankommt, die sie benötigen. Hilfsorganisationen kritisieren zu Recht, dass davon nur die Starken und Rücksichtslosen am Boden profitieren. Wer es schafft, abgeworfene Hilfsrationen zu ergattern, verkauft diese zu überhöhten Preisen auf dem Markt.

Dabei könnte man längst wissen: Schon während des Afghanistankrieges waren die airdrops, die Lebensmittelabwürfe aus der Luft, höchst umstritten. Nicht nur, weil die Pakete mit Propagandabotschaften des amerikanischen Militärs versehen waren, sondern auch, weil die gelben Päckchen der im Krieg gegen die Taliban eingesetzten Streumunition zum Verwechseln ähnlich sahen. Und weil das humanitäre Prinzip, dass die Hilfe nach der Bedürftigkeit der Notleidenden zu verteilen ist, damit nicht eingehalten werden kann. Zudem ist diese Art der Versorgung mit Hilfsgütern unvergleichlich teurer als über den Land- oder Seeweg.

Dabei könnte bei etwas gutem Willen aufseiten der israelischen Regierung die Versorgung mit humanitären Gütern auf dem Landweg sichergestellt werden. So aber nimmt man in Kauf, dass Menschen, die vor den Kriegshandlungen und Bombardierungen fliehen, nun an Hunger, Krankheiten und Erschöpfung sterben.

Während der Balkankriege in den 90er Jahren, aber verstärkt während des Nato-Einsatzes in Afghanistan, haben Hilfsorganisationen davor gewarnt, humanitäre Hilfe und militärische Operationen miteinander zu verknüpfen. Zivilmilitärische Zusammenarbeit hieß das, oder – euphemistischer und in der Diktion der Militärs – „vernetzte Sicherheit“. Damit war und ist ein Konzept gemeint, das humanitäre Hilfe und militärisches Handeln verknüpft, um Sicherheit herzustellen und zu gewährleisten. Zentraler Punkt der Kritik an diesem Konzept war und ist, dass humanitäre Hilfe – die prinzipiell unabhängig und neutral sein muss – und militärische Aktion nicht mehr unterscheidbar sind. Erst recht, wenn Militärs selbst als humanitäre Helfer agieren. Letztlich führt dies zu einer Gefährdung der humanitären Hilfsorganisationen und ihres Personals. Genau das ist nun in Gaza passiert, und es passiert an anderen Kriegsschauplätzen der Welt. Die Deklaration als „tragischer Zwischenfall“ ist irreführend.

Hinweis: Näheres zur Problematik der zivil-militärischen Kooperation in dem von mir mitherausgegebenen „Handbuch Humanitäre Hilfe“.


Meine Lektüreempfehlung: Palästina und die Palästinenser von Muriel Asseburg

Bei der Darstellung des israelisch-palästinensischen Konflikts in den bundesdeutschen Medien und in der wissenschaftlichen und politischen Debatte kommt die palästinensische Perspektive häufig zu kurz oder wird einseitig durch Klischees geprägt, wonach die Palästinenser entweder als „Terroristen, Ewiggestrige oder reine Opfer“ wahrgenommen werden, so die Autorin in der Einleitung zu ihrer Geschichte Palästinas und der Palästinenser, eine Geschichte, die geprägt ist „von Krieg, Konflikt, Vertreibung, Verlust und Exil sowie von einem bis heute unerfüllten Streben nach nationaler Selbstbestimmung“.

Asseburg beschreibt faktenreich und mit großer Detail- und Sachkenntnis die Geschichte des Konflikts, beginnend mit der Gründung des Staates Israel 1948 bis in die jüngste Gegenwart, und will dabei „die Palästinenserinnen und Palästinenser als Handelnde ihrer eigenen Geschichte sichtbar machen“ und den besonderen Beitrag der Frauen zu dieser Geschichte hervorheben. Es gelingt der Autorin, diesem Anspruch gerecht zu werden, ohne dabei kritiklos Partei für die handelnden Akteure auf der palästinensischen Seite zu ergreifen. Ihre Darstellung macht jedoch verständlich, wie sehr der palästinensische friedliche Widerstand als auch der gewaltsame Protest von der israelischen Besatzungs-, Siedlungs- und Flüchtlingspolitik und der diskriminierenden Behandlung der palästinensischen Bevölkerung provoziert wurde und wird. Eine Lösung ist nicht in Sicht; die am Schluss des Buches beschriebenen Zukunftsaussichten sind mehr als düster.     

Leider ist in Deutschland vor dem Hintergrund der Shoa jede Kritik an der Politik des Staates Israel schnell mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt. Ein Beispiel dafür ist die BDS-Kampagne (Boycott, Divestment, and Sanctions), die 2019 vom Deutschen Bundestag verurteilt wurde.  Asseburg zeigt in ihrem Buch auf (S. 231 ff.), dass eine Gleichsetzung von BDS mit Antisemitismus dem Anliegen der Kampagne nicht gerecht wird und auch von namhaften jüdischen und israelischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern abgelehnt wird.

Mein Fazit: Asseburgs Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Versachlichung der Diskussion um den palästinensisch-israelischen Konflikt.

(Muriel Asseburg: Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart. C.H. Beck. München 2021, 16,95 €)


Meine Lektüreempfehlung: Apeirogon von Colum McCann

Bücher mit 600 Seiten müssen für mich schon sehr gut sein, wenn ich sie nicht nach den ersten Kapiteln ermüdet weglegen soll. Colum McCann hat es mit seinem Roman „Apeirogon“ geschafft, mich bis zur letzten Seite bei Laune zu halten. Obwohl: Laune macht dieses Buch nicht. Es ist schwere Kost. Es handelt vom Konflikt Israel/Palästina. McCann erzählt die Geschichte von Bassam Aramin, Palästinenser, und Rami Elahan, Israeli. Diese beiden treibenden Kräfte, die sich dem gemeinsamen Kampf gegen den Hass verschworen haben, sind reale Personen, wie der Autor in seiner Vormerkung schreibt.

Erzählt wird die Geschichte ihrer Freundschaft aus traurigem Anlass: Beide haben ihre Töchter durch Gewalt verloren. Smadar Elahan, die Tochter von Rami, wurde im Alter von 13 Jahren Opfer eines Sprengstoffanschlags in Jerusalem. Abir Aramin, die Tochter von Bassam, wird durch das Gummigeschoss eines jungen israelischen Soldaten getötet, als sie zehn Jahre alt ist. Die Form dieses „Hybridromans“ ist ungewöhnlich und orientiert sich an Apeirogon (daher der Name) „eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten“ (so im Klappentext). Nun sind die Seiten nicht unendlich, und die Zahl der Kapitel scheint mit 1000 fast unendlich, aber viele Kapitel bestehen aus nur einem Satz, ein paar Zeilen. Von Kapitel 1 bis 500 wird aufwärts gezählt, dann wieder abwärts von 500 bis 1. Man könnte mit der Lektüre durchaus genau in der Mitte des Buches, also mit den beiden Kapiteln 500 anfangen, wo Rami und Bassam ihre jeweilige Geschichte erzählen. Aber egal, wo anfangen, unbedingt lesenswert!