Eine bessere Welt ist möglich

Ist die Welt heute besser oder schlechter als früher? Haben wir die finstersten Kapitel der Menschheitsgeschichte (Holocaust, zwei Weltkriege, Sklaverei, Pest, Völkermord) hinter uns oder kommt es noch schlimmer? Sollen wir dem Moralisten Kant mit seinem kategorischen Imperativ oder dem Amoralisten Nietzsche glauben, wenn wir den Zustand der Welt und das menschliche Handeln betrachten?

Über den aktuellen Zustand der Welt zu schreiben, macht hilflos, wütend und traurig. Ein Blick auf die Nachrichten der letzten Tage und Wochen: Wieder mehrere hundert Flüchtlinge bei der Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Das Aufnahmelager in Lampedusa platzt erneut aus allen Nähten, wie schon 2015/2016. Europa kann sich nicht auf eine humane Flüchtlingspolitik und auf Aufnahmequoten einigen. Im Nahostkonflikt eskaliert die Gewalt, es droht eine dritte Intifada. Hamas und israelisches Militär beschießen sich gegenseitig mit Raketen, zum Leidwesen der Zivilbevölkerung. Die Gewalt in Afghanistan nimmt weiter zu und eskaliert bei einem Terroranschlag auf eine Schule in Kabul mit 70 Toten und 100 Verletzten, darunter viele Kinder. Mehr als 400.000 Corona-Neuinfektionen an nur einem Tag in Indien. Die Krematorien schaffen die Verbrennungen nicht. Myanmar steht kurz vor dem Bürgerkrieg. Die Militärjunta erschießt gezielt Demonstranten. Es formiert sich bewaffneter Widerstand. In Kasan in Russland sterben sieben Menschen bei einem bewaffneten Angriff auf eine Schule. Deutschland weigert sich, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterschreiben. Die Klimaziele von Paris werden bei den derzeitigen halbherzigen Maßnahmen verfehlt; die Erderwärmung wird nach Prognosen des Climate Action Tracker bis 2100 auf 3 bis 4 % ansteigen. Weltweit steigen die Ausgaben für Rüstung, während gleichzeitig die Zahl der absolut Armen und Hungernden wieder zunimmt.

Wem das noch nicht reicht, der oder die darf die Liste der Hiobsbotschaften und Untergangsszenarien gerne fortsetzen. Anschauungsmaterial dafür findet sich zu Genüge in der großen und kleinen Politik bis hinein in die unmittelbare Nachbarschaft. Ökologischer Raubbau im Amazonasgebiet, Massentierhaltung in deutschen Zuchtbetrieben, Kindesmissbrauch, Betonkopfdenken im Vatikan, zunehmender Rechtsradikalismus und Antisemitismus in Deutschland, Verschwörungsgeschwurbel rechter Publizisten, usw. 

Wie hält man das aus? Wie geht man damit um? Wegschauen und den Grill anwerfen? Musikantenstadl im Fernsehen einschalten? Den neuesten Bestseller aus der Reihe „Positiv denken“ bestellen? An einem online-Kurs in Lachyoga teilnehmen? In Depression und Melancholie verfallen? Der misanthropische Philosoph und ewige Pessimist Artur Schopenhauer soll gesagt haben „Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere“. Er glaubte nicht an den moralischen Fortschritt der Menschheit und war sich zumindest darin mit Nietzsche einig. Andererseits soll Schopenhauer auch gesagt haben: „Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.“ Wenn das kein Aufruf zum politischen Widerstand ist! Das setzt allerdings voraus, dass wir empfindsam bleiben für die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Fehlentwicklungen und uns nicht ins Private zurückziehen. Das „sich empören“ über gesellschaftliche Missstände wird gerne einem naiven jugendlichen Enthusiasmus a la „Fridays for Future“ zugeschrieben. Dass das keine Frage des Alters ist, hat uns der französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel gezeigt. 2010, im Alter von 93 Jahren, hat er sein vielbeachtetes Essay „Indignez-vous!“ (Empört Euch!) geschrieben.

Ist also eine bessere Welt möglich? Ja, meint der streitbare Soziologe Harald Welzer: „Utopischer Realismus ist das Entwerfen einer modernen Gesellschaft, die aufgehört hat, ihre eigenen Voraussetzungen zu konsumieren. Das Apollo-Projekt des 21. Jahrhunderts ist nicht die Besiedelung von Mond und Mars, es ist: eine andere Welt möglich zu machen.“

Wir können schon heute damit anfangen.