Heiterkeit im Angesicht von Terror, Gewalt und Zerstörung?

Soll man, ja darf man in diesen Zeiten heiter sein? Axel Hacke hat ein Buch über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten geschrieben. Ein Auszug daraus ist in der ZEIT erschienen. Nett zu lesen, amüsant, aber auch ernst und zum Nachdenken anregend. Ich lese die Texte von Hacke, der eine gute Schreibe hat, meistens gern. Und was die Heiterkeit anbetrifft: Schon klar, dass man damit besser durch den Alltag kommt als mit Verbissenheit, Ärger, Zorn, Neid, Eifersucht, und was einen sonst noch an unguten Gefühlen und Gedanken beherrscht. Besonders vor schwierigen Gesprächen oder Sitzungen wie etwa im Gemeinderat, dem ich seit vielen Jahren angehöre, habe ich mir Heiterkeit und Gelassenheit – sozusagen „HeiGel“ – verordnet. Nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Leider gibt es HeiGel noch nicht rezeptfrei, es sei denn, man greift ersatzweise auf Alkohol, Cannabis oder Kokain zurück.

Mehr Heiterkeit in schwierigen Zeiten, oder „das Schwere leicht gesagt“, wie es der von mir geschätzte, verstorbene Kabarettist Hanns Dieter Hüsch in einem kleinen Büchlein schrieb. Wie aber heiter und gelassen bleiben angesichts der Ereignisse dieser Tage? Die entsetzliche Brutalität des Terrors der Hamas und die gnadenlose Reaktion Israels mit bisher 3.000 Toten auf beiden Seiten, ohne dass ein Ende der Gewalt absehbar ist, lässt einen sprachlos zurück. Historische Vergleiche sind meistens unpassend, und doch fallen einem der nationalsozialistische Holocaust, die Grausamkeiten im Vietnamkrieg, das Massaker von Screbreniza, die Terroranschläge vom 11. September 2001, der Angriffskrieg gegen die Ukraine ein. Es gibt Erklärungen für diese kollektiven Gewaltausbrüche, aber keine Rechtfertigungen. Hass, Rache, Vergeltung scheinen die vorherrschenden Gefühle der Akteure zu sein. Keine Spur von Heiterkeit, Gelassenheit oder gar Toleranz und Vergebung – das wären die Voraussetzungen, um Frieden zu schaffen und die Gewalt zu beenden. Kann man aber einer palästinensischen Familie, die unter der Besatzung Israels leidet, empfehlen, diese mit Gelassenheit und Heiterkeit zu ertragen? Oder der Mutter im Iran, deren Sohn/Tochter wegen Kritik am Mullahregime hingerichtet wird? Oder den Familien in der Ukraine, die ständig von Artilleriebeschuss bedroht sind und deren Kinder in Luftschutzkellern zur Schule gehen?

Hoffen auf Frieden, hoffen auf Einsicht, hoffen auf Toleranz, hoffen auf Vernunft: Wie geht das im Blick auf diese Meldungen aus den letzten Wochen (kein Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Klimafachleute zeichnen beim 13. Extremwetterkongress in Hamburg ein düsteres Bild für die Zukunft. Das 1,5-Prozent-Ziel von Paris ist gescheitert. Der Klimawandel setzt sich weitgehend ungebremst fort. Auf der Erde seien nicht mehr abwendbare massive Folgen zu erwarten.
  • Die Zahl der Streubombenopfer hat einen Höchststand erreicht. Die meisten Opfer gab es in der Ukraine.
  • In Deutschland landen 18 Millionen Tonnen Lebensmittel in der Tonne.
  • In Afrika nimmt die klimabedingte Hungersnot zu.
  • Russland verweigert ein neues Getreideabkommen.
  • Das Artensterben geht weiter. Weltweit gefährden invasive Arten heimische Tiere und Pflanzen, warnt der Biodiversitätsrat. Die Krise verschärfe sich.
  • In Deutschland werden immer mehr und immer größere Autos gebaut und verkauft.
  • Saudische Grenzschützer erschießen Hunderte Migranten an der jemenitischen Grenze.
  • Steigende Zustimmungswerte für die AfD.
  • Im Mittelmeer sinkt das Flüchtlingsschiff Adriana mit rund 750 Menschen an Bord. Nur wenige überleben.

Ich bleibe ratlos zurück. Vielleicht ist, wenn schon nicht Heiterkeit, dann Melancholie und Traurigkeit das angemessene Gefühl für diese Tage.


4 Kommentare on “Heiterkeit im Angesicht von Terror, Gewalt und Zerstörung?”

  1. Anonymous sagt:

    Lieber Jürgen,
    natürlich hast Du recht mit Deiner Nachdenklichkeit. Einfache Antworten gibt es nicht. Und doch gibt es am Ende doch vielleicht nur eine Antwort: wir müssen unseren Werten wenigstens selbst treu bleiben. Und und gegenseitig darin stärken.
    Und ob das dann andere auch nachdenklich macht, ob sich das ein oder andere in die Gedanken und das Bewusstsein und das Verhalten einschleicht – das liegt nicht in meiner Macht, sondern in deren Freiheit.
    Achtung, da geht es schon weiter: Was ist meine Freiheit, was die Freiheit der/des anderen? Wo bleibt es im Ausleben der Freiheit beim Einzelnen, wo betrifft es alle?
    Auch hier gibt es keine einfache Antwort und keine klare Grenzlinie. Vielleicht gibt es am Ende gar keine Antwort und wir sind genötigt, miteinander im Gespräch, im Kontakt, in ernsten Auseinandersetzungen zu bleiben. Und vielleicht führt dann an der ein oder anderen kleinen Stelle dieser langsame Weg zu ein wenig Heiterkeit und Gelassenheit.
    Eine Herausforderung für Menschen wie Dich und mich. Deshalb bist und bleibst Du ja ein Kämpfer – ob im Gemeinderat oder …

    Danke für Deinen Gedankenanstoß am frühen Morgen!
    Stephan

  2. Ulrike sagt:

    Diese Diskussion verstehe ich nicht, habe ich noch nie verstanden. Natürlich darf man in diesen Zeiten lachen und lustig sein. z.B. der Clown im Krankenhaus. Nur Lachen, Liebe und Freude sind in diesen Zeiten die notwendigen Waffen. Alles andere schafft und verstärkt größeres Leid. LG Ulrike

  3. Danke! Ein großartiger Blogpost, der das Dilamma auf den Punkt bringt, in dem ich mich auch befinde: Kann ich angesichts dessen, was gerade geschieht, noch „heitere“ Themen bringen? Mir haben die Ereignisse vom 7.September und die andauernden Folgen erstmal die Sprache verschlagen!

  4. Anonymous sagt:

    Ja, darüber habe ich mir natürlich auch schon Gedanken gemacht, da ich ebenfalls versuche zum Lachen und Schmunzeln anzuregen.
    Hat für mich was von Karl Valentin:
    Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch
    Grüße
    Charles Canary


Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..