Waffenlieferungen, Bürgergeld, Atomkraft, Reichensteuer: Dafür oder dagegen? Ein Plädoyer gegen die Bekenntniseritis

Die Zeitenwende, die Zeitenwende …

Viel ist derzeit die Rede von der Zeitenwende und den schwierigen Zeiten, in denen wir leben. Klimawandel, Kriege, Wirtschaftskrise, Lieferengpässe bei Chips und Gummibärchen. Die Chinesen bedrohen unseren Wohlstand. Die AfD spioniert für China und hat einen Spitzenkandidaten für die Europawahl mit Maulkorb. Ein paar Vollidioten wünschen sich ein Kalifat für Deutschland. Die FDP findet das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz blöd. Die CDU möchte keine vierspurigen Radwege in Ouagadougou oder Chichicastenango mit deutschen Steuergeldern bauen. Die SPD will einen höheren Mindestlohn für die werktätige Bevölkerung und einen niedrigeren Höchstlohn für Konzernchefs. Die CSU will den Leberkäs in die bayerische Landesverfassung aufnehmen. Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Das alles und noch vieles mehr bewegt die Gemüter, erzeugt kollektive Schnappatmung und Empörungsrhetorik, frei zitiert nach Ludwig Uhland: „Da wallt dem Deutschen auf sein Blut“.    

Das Recht auf freie Meinungsäußerung

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – auch so´n Zitat. Von wem war das nochmal? Lothar Matthäus? Egal, jedenfalls sind wir aufgefordert, eine eigene Meinung zu haben und diese auch kundzutun. Unsere Verfassung gesteht jedem das Recht zu, seine Meinung, egal wie bescheuert sie sein mag, frei zu äußern und zu verbreiten (Art. 5 GG). Als vor 75 Jahren das Grundgesetz geschrieben wurde, gab es noch kein Instagram, Whatsapp, Tik Tok, Twitter, Facebook und Youtube. Sonst hätten sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes angesichts des bullshits, der über die „sozialen“ Medien verbreitet wird, das mit der freien Meinungsäußerung vielleicht nochmal überlegt.

Nun gibt es also dieses Recht auf freie Meinungsäußerung, aber keine Pflicht dazu. Trotzdem – und damit wären wir wieder bei den schwierigen Zeiten, von denen anfangs die Rede war – gerät man ständig in Situationen, wo ein Bekenntnis von einem erwartet wird. Auf welcher Seite stehst du? Bist du für oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine? Soll die AfD verboten werden? Ist das Vorgehen Israels im Gaza ein Genozid? Sollen die Reichen stärker zur Kasse gebeten werden? War es falsch, die Atomkraftwerke abzuschalten? Soll Europa die Zuwanderung begrenzen? Soll Canabis legalisiert werden? Bist du auch der Meinung, dass es sich in Deutschland nicht mehr lohnt zu arbeiten (Bürgergeld)? Soll das Gendern in Kindergärten verboten werden?

Das Minenfeld der political correctness

Habe den Mut, eine eigene Meinung zu haben. Das ist leicht dahergesagt. Denn die Meinung, sofern man eine hat, sollte klar, eindeutig und politisch korrekt sein. Und bitte kein „Ja, aber …“. Gut ist, wenn die Meinung auf einen Button von der Größe eines Fünfmarkstücks oder auf ein Demoschild passt (Atomkraft, nein danke! Konzerne enteignen! No Nazis! Menschenrechte statt rechte Menschen! Hass ist keine Meinung! Ausländer raus! No borders!). Parteien und Personen, die sich bei den bevorstehenden Kommunal- und Europawahlen um ein Mandat bewerben, teilen uns ihre jeweiligen Bekenntnisse plakativ mit: „Klima schützen statt Konzernprofite“, „Freiheit statt Sozialismus“ (Parole der CDU im Bundestagswahlkampf 1976), „Für Sicherheit und Ordnung!“ „Wohlstand für alle!“ „Sei kein Arschloch“. Im Internet kann man zur eigenen Meinungsbildung, welche Partei am besten zu einem passt, mithilfe eines Wahl-O-Maten Fragen beantworten wie „Die EU soll mehr Waffen für die Ukraine finanzieren“ – zur Auswahl stehen „stimme zu / neutral / stimme nicht“. Das ist zu schaffen, auch wenn man bei jeder zweiten Frage eigentlich sagen möchte „Stimme zu, aber unter bestimmten Voraussetzungen, und nur wenn …“.

Jenseits von simplen Parolen: Wieviel Meinungsvielfalt halten wir aus?

Kompliziert und heikel wird das Kundtun von Bekenntnissen, wenn es um den Diskurs in Politik, Wissenschaft und Medien geht. Braucht Israel unsere „uneingeschränkte Solidarität“ oder ist das Vorgehen in Gaza völkerrechtswidrig? Robert Habeck hat beide Meinungen vertreten. Bemerkenswert daran ist, dass CSU-Generalsekretär Martin Huber Habecks Kritik an Israel „unfassbar und beschämend“ (Schnappatmung!) findet. Was an diesem Beispiel deutlich wird: In der politischen Debatte um aktuelle Kriege und Konflikte oder auch um sozialpolitisch umstrittene Vorhaben (Bürgergeld!) sind differenzierende und abwägende Meinungen und Haltungen eher selten, ja sogar verpönt. Auf dem Campus von Universitäten, bei Vortragsveranstaltungen, im Kulturbereich, in Talkshows und an den Stammtischen treffen kontroverse Meinungen unversöhnlich aufeinander. Zum Vorgehen Israels im Gazakrieg, zu Waffenlieferungen an die Ukraine, um nur diese beiden Beispiele zu nennen, werden Andersdenkende und besonnen Argumentierende niedergeschrien, verhöhnt, im schlimmsten Falle gewaltsam attackiert. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich wurde wegen eines kritischen Statements zum Ukrainekrieg im Bundestag mit Unverständnis, Hohn und Spott übergossen. Wer die militärische Unterstützung der Ukraine gegen die russischen Invasoren nicht uneingeschränkt befürwortet, hat es im politischen Diskurs schwer. Eine differenzierte und abwägende Argumentation, eine „Sowohl-als-auch-Position“ ist nicht opportun, erst gar nicht ein Hinweis auf die Historie des Konflikts. Weitreichende Luftabwehrraketen an die Ukraine, die auch russisches Territorium erreichen können: Bist du dafür oder dagegen? Einen unabhängigen Palästinenserstaat – dafür oder dagegen? Grundrecht auf Wohnung schaffen durch mehr staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt – dafür oder dagegen?

Die Kunst, Recht zu behalten

Fazit: Dies ist kein Plädoyer für Meinungsbeliebigkeit oder für eine „Da halte ich mich lieber raus“-Entschuldigung, um sich keinen Widerspruch oder Ärger einzuhandeln. Es ist ein Plädoyer für einen kritischen Diskurs, der unterschiedliche Positionen zulässt. Ein Diskurs, der dem Zeitgeist geschuldete Überzeugungen hinterfragt. Ein Diskurs, der nicht von „der dem Menschen natürlichen Rechthaberei“ (1) dominiert ist, sondern von der Suche nach der Wahrheit. Und die passt in der Regel nicht auf ein Wahlplakat oder in ein flammendes Talkshow-Statement.  

(1): Arthur Schopenhauer: Eristische Dialektik. Oder: Die Kunst, Recht zu behalten.


3 Kommentare on “Waffenlieferungen, Bürgergeld, Atomkraft, Reichensteuer: Dafür oder dagegen? Ein Plädoyer gegen die Bekenntniseritis”

  1. Anonymous sagt:

    Danke, Du triffst den Nagel mitten auf den verunsicherten Kopf. Ich habe eine Meinung, die manchmal aus dem Bauhaus kommt und sich im Argumentieren schwer tut. Aber ich bleibe bei ihr, denn sie gründet auf meinem tiefen Gefühl dafür, was Recht und anständig ist oder eben nicht.

  2. Anonymous sagt:

    Das „Plädoyer gegen die Bekenntniseritis“ findet inhaltlich meine volle Zustimmung. Vielen Dank dafür!

  3. Fred Lang sagt:

    Das „Plädoyer gegen die Bekenntniseritis“ findet inhaltlich meine volle Zustimmung. Vielen Dank dafür!


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