Leberkäspflicht statt Asylrecht: So begrenzen wir die Zuwanderung

Derzeit kursieren viele originelle Vorschläge, wie wir die unkontrollierte Zuwanderung in unsere Sozialsysteme begrenzen könnten. Die europäische Agentur Frontex zum Beispiel, die für ihren sensiblen Umgang mit Flüchtlingen bekannt ist (illegale pushbacks, hihi), soll die Flüchtlinge schon auf dem Meer abfangen und am Betreten des europäischen Festlands hindern. Wenn´s denn sein muss, mit Schusswaffengebrauch, gell, Frau Beatrix von Strolch?

Was aber, wenn sie schon mal da sind, die Flüchtlinge? Dann muss man sie, Menschenrechte hin oder her, so behandeln, dass ihnen die Lust vergeht, hierzubleiben. Die bayerische FDP und der Söder Markus von der CSU haben nun fast zeitgleich (Wahlkampf in Bayern!) vorgeschlagen, die Flüchtlinge mit einer Chipkarte statt mit Bargeld auszustatten. Damit sollen sie Lebensmittel wie Leberkäs, Maggi Würzpaste und Weißwürste einkaufen können, aber keinen Alkohol. Denn mit den bar ausgezahlten Asylbewerberleistungen, so hört man aus stets gut unterrichteten Kreisen, kaufen sich die Flüchtlinge dicke Autos und Drogen, essen jeden Tag Kaviar und überweisen den Rest an ihre Großfamilie in Quagadougou. Was mit der Chipkarte endlich mal unterbunden würde.

Das ist aber sicher noch zu toppen, liebe bayerische CSU/FDP/AfDler, gell? Was haltet ihr von dem Vorschlag, um ganz Bayern einen Zaun zu ziehen, vollgehängt mit Leberkäs-Semmeln und Weißwürsten, sozusagen als Abschreckung? Alle, die ihren Ekel überwinden und trotzdem über den Zaun klettern, könnte man zwangsverpflichten, drei Tage das Oktoberfest zu besuchen, im Fernsehen Musikantenstadl und alle Eberhofer-Krimis anzuschauen und mindestens einmal mit Hubert Aiwanger und Markus Söder zum Weißwurstwettessen anzutreten.

Wenn sich das unter den Flüchtlingen rumspricht, wollen garantiert alle lieber nach Polen mit seiner Piss-Partei. Und wir hätten endlich unsere Ruhe.


Hej Flüchtlinge, tut mir jetzt echt Leid

Ich muss jetzt mal eine persönliche Botschaft an alle loswerden, die immer noch versuchen, nach Europa zu fliehen:

Liebe Flüchtlinge überall auf der Welt, estimados refugiados, dear refugies, chers réfugiés,

أيها اللاجئون الأعزاء,

tut mir jetzt irgendwie echt Leid, aber ich als Bewohner Europas muss euch klipp und klar sagen, dass jetzt aber mal Schluss ist mit der ungesteuerten Migration und den illegalen Grenzübertritten. Egal wo ihr gerade herkommt oder euch auf den Weg macht: Vergesst es! Bleibt zuhause! Bleibt wo der Pfeffer wächst! Wir machen jetzt unsere Außengrenzen dicht. So kann es ja nicht weitergehen. Und denkt bloß nicht, ihr müsst nur ein Schlauchboot besteigen und euch auf den Weg über das Mittelmeer machen, und dann kommen irgendwelche Gutmenschen und retten euch aus Seenot. Auch damit ist bald Schluss. Und wenn ihr es trotzdem versucht, dann seid ihr selber schuld, wenn ihr auf dem Meer ertrinkt oder in einem Lager mit Stacheldraht an unseren Außengrenzen landet, wo man euch gefangen hält, bis über euren Asylantrag entschieden ist. Die wenigsten von euch können doch tatsächliche Asylgründe vorbringen. Also so Sachen wie politische Verfolgung, Diskriminierung usw. Wenn ihr Glück habt und einen guten Anwalt (haha, kleiner Scherz), dann gehört ihr zu den drei oder vier Prozent, die als Flüchtlinge anerkannt werden und nach Europa reindürfen. Die meisten werden ziemlich schnell wieder in sichere Drittstaaten abgeschoben, pardon, wollte sagen, zurückgeführt. Mal ehrlich: Da, wo ihr herkommt, ist es doch relativ sicher, also stellt euch mal nicht so an! Bei uns ist auch nicht alles sicher. Erst gestern hat mir einer den Lack an meinem neuen SUV zerkratzt (wahrscheinlich ein Araber, die machen sowas ständig, wenn sie nicht gerade unsere Frauen belästigen). Wir können euch hier in Europa nicht alle durchfüttern. Die Einwanderung in unsere Sozialsysteme muss ein Ende haben!

Ok, ich weiß, bei euch zuhause gibt es keine Arbeit, ihr könnt eure Familie wegen der Dürre nicht mehr ernähren, es ist Krieg und überhaupt sind alle ziemlich arm. Das heißt aber doch nicht, dass wir unseren Wohlstand so einfach mit euch teilen können! Dann würden wir ja alle arm. Wir haben es schließlich auch nicht leicht und können uns nur noch zweimal im Jahr Urlaub leisten. In euren Ländern kann man übrigens schön Urlaub machen. Ihr habt so schöne Strände und die Getränke sind ganz billig! Wieso wollt ihr da alle weg? Gut, wir haben eure Länder in der Kolonialzeit und bis heute ausgebeutet, mit Sklaven gehandelt, eure Bodenschätze geraubt und so weiter. Das tut uns auch echt leid. Aber das ist Vergangenheit, Schwamm drüber.

Wir versprechen auch, in euren Ländern mehr für die Entwicklung zu tun und dafür Geld auszugeben. Nicht so viel wie für die Rüstung, aber ok. Wenn dann eure Regierungen oder Kleptokraten in den staatlichen Behörden das Geld einstreichen, dann ist das doch euer Problem! Wir können ja auch nichts dafür, dass eure Regierungen so wenig gegen die Korruption tun.  

Also sorry, echt jetzt, mal! أنا آسف , je suis désolé – ich hoffe auf euer Verständnis.

Euer mifühlender Europäer Jürgen


Wir müssen draußen bleiben. Die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes aus Europa

Worum es bei diesem Blogbeitrag nicht geht: Um so existentielle Fragen wie die Heizungsdebatte (grotesk), um die Vetterleswirtschaft in Habecks Ministerium (dumm gelaufen), nicht um den Medienstar und vielzitierten Führer einer privaten Söldertruppe im Ukrainekrieg (seit wann gelten Kriegsverbrecher als seriöse Informationsquelle?) und schon gar nicht um Marie-Agnes Strack-Zimmermann (gähn) oder den Fraktionsführer der CDU/CSU Thorsten Frei (der sich offenbar die Haare regelmäßig in der Fritteuse wäscht – das muss ja irre viel Strom kosten!).

Nein, es geht um so etwas Nebensächliches wie das Schicksal von Millionen von Kriegs-, Klima- und Armutsflüchtlingen. Also gewissermaßen um Flüchtlingsschutz, äh, also wie Europa sich vor den Flüchtlingen schützen will.

Den Flüchtlingszustrom stoppen

Derzeit überbieten sich Politiker nahezu aller Parteien, auch der Grünen, mit Forderungen und Vorschlägen, wie man den Zustrom der Flüchtlinge nach Europa und Deutschland stoppen kann. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will eine schärfere EU-Asylpolitik und bekommt dafür – Achtung! – Beifall von ihrem Vorgänger Horst Seehofer. Es scheint große Einigkeit zu herrschen, dass man die Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU aufhalten will. Dort sollen sie in großen, menschenfeindlichen Massenunterkünften interniert werden, bis ihr Asylantrag im Schnellverfahren entschieden ist. „Die Guten, möglichst wenige, dürfen dann rein: die Schlechten, möglichst viele, sollen draußen bleiben“, so Heribert Prantl in seiner politischen Wochenschau vom 7.05.2023. Und damit man die abgewiesenen Flüchtlinge auch wieder loswird, sollen möglichst viele Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Oder man ködert afrikanische Staaten wie Ruanda, Senegal oder Tunesien mit „Entwicklungshilfe“, damit sie bei der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes mitmachen und zustimmen, abgewiesene Flüchtlinge in großer Zahl in ihren Ländern aufzunehmen.

Die Idee mit den sogenannten „Ankerzentren“ an den Außengrenzen – Anker steht für „Ankunft, Entscheidung, Rückführung“, die man eher der AfD zuordnet, wurde 2018 von Innenminister Seehofer und der Großen Koalition ins Spiel gebracht. Schon drei Jahre vorher, im Herbst 2015, entbrannte in Deutschland eine Debatte a lá „Immer mehr Flüchtlinge: Wie kann man sie stoppen?“ (Panorama-Sendung vom 29.10.2015. Schon damals hatte zum Beispiel Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gefordert, den Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland mit Transitzonen zu stoppen.

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“

Jetzt wird sogar von einer Sicherung der Außengrenzen mit Mauern und Zäunen gesprochen – die es teilweise ja schon gibt. Das bedeutet, Flüchtlinge sollen mit Gewalt daran gehindert werden, europäischen Boden zu betreten. Bis zum Schießbefehl an den Grenzen ist es dann nicht mehr weit. Wie das funktioniert, können sich die Europäer bei den Amis und ihrer Grenzsicherung zu Mexiko anschauen.

„Anfang 2023 sind Abschiebungen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten nun öffentlich das Dogma der EU-Migrationspolitik. In Deutschland kam die Ampel-Koalition nach einem Gipfel zu Ergebnissen, die entgegen der Koalitionsvereinbarungen stehen: Sie wollen mehr Abschiebungen, Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, Abkommen mit Drittstaaten, wie ein Dokument zeigt, das wir kürzlich veröffentlicht haben. Um mehr Abschiebungen durchzusetzen, hat Deutschland mittlerweile seit Anfang des Jahres einen eigenen Sonderbeauftragten.“ (Quelle: Frag den Staat)

 Von den Zuständen auf dem Mittelmeer, wo man keine Zäune errichten kann, erfährt die Öffentlichkeit immer weniger. „Die menschliche Katastrophe, die sich im Mittelmeer ereignet, ist nicht hinnehmbar“, sagte IOM-Generaldirektor Antonio Vitorino. Mehr als 20.000 Menschen seien seit 2014 auf der zentralen Mittelmeerroute ums Leben gekommen. Wie viele auf der Strecke tatsächlich sterben, ist unklar. Viele Leichen werden mutmaßlich nie geborgen.“ Tagesschau vom 12.04.2023). Gleichzeitig plant das deutsche Verkehrsministerium, die Seenotrettung weiter einzuschränken.

Und was treiben die „Migrations-Manager“ vom IPMPD?

Unbemerkt von der Öffentlichkeit und wenig transparent agiert im Hintergrund eine dubiose Organisation: Das „International Centre for Migration Policy Development (IPMPD)“. Laut einer Recherche des Blogs „Frag den Staat“* berät das IPMPD „Staaten im Hintergrund, schafft internationale Vernetzungen und wird auch selbst in Grenzregionen der EU aktiv …es unterstützt direkt und indirekt die Küstenwachen in Libyen, Marokko und Tunesien – Behörden, denen massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Damit hilft ICMPD dabei, die EU-Außengrenze nach Nordafrika zu verschieben. …ICMPD entwickelte Ideen für ein dubioses Asyl-Projekt in Deutschland mit. Involviert war dabei auch der mittlerweile untergetauchte Wirtschaftskriminelle Jan Marsalek“.

Unter anderem beschäftigt sich das ICMPD auch mit dem „Management von Leichen auf See“. Diese kalte Technokratensprache („Rückführung“ statt „Abschiebung“) spiegelt sich auch in dem Terminus „Migrationsdiplomatie“ wider: Gemeint ist schlicht und ergreifend „schneller und effizienter abschieben“. In diesem Geist berät das ICMPD die europäischen Regierungen, auch die deutsche. Der Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Konvention bleibt mehr und mehr auf der Strecke.

Die Erkenntnisse aus der Recherche von Frag den Staat hat Jan Böhmermann im ZDF-Magazin Royale am 19.05.2023 zum Thema gemacht – kann man sich bis 18.05.2024 noch hier anschauen.

*FragDenStaat ist die zentrale Anlaufstelle für Informationsfreiheit in Deutschland.


Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern die Staaten

Ein Beitrag zu 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention

Menschen fliehen vor Verfolgung, Krieg, Hunger und wirtschaftlicher Not. 2020 verzeichnete der UNHCR, das UN-Flüchtlingshilfswerk, 82,4 Millionen Flüchtlinge weltweit. Die meisten davon sind IDPs, Internal Displaced Persons, also Binnenvertriebene. Und: Die allermeisten Flüchtlinge, nämlich 86 Prozent, leben in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen oder in Ländern, die direkt an die Krisengebiete angrenzen. In Deutschland leben aktuell 1,2 Mio. Flüchtlinge.

Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind, egal aus welchen Gründen, sind schutzbedürftig. Sie haben Rechte wie alle Menschen. Das „Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge“, wie die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) richtig heißt, wurde am 28. Juli 1951, also heute vor 70 Jahren verabschiedet, um die Rechte von Menschen auf der Flucht mit einem internationalen, völkerrechtlich verbindlichen Abkommen sicherzustellen. Deutschland ist diesem Abkommen wie die meisten Staaten der Welt beigetreten. Zusätzlich hat Deutschland in seiner Verfassung ein explizites Recht auf Asyl verankert – das leider durch zahlreiche gesetzliche Regelungen in den letzten Jahren mehr und mehr aufgeweicht wurde.  

Die Katholische Akademie Freiburg widmete diesem Ereignis, der Verabschiedung der GFK vor 70 Jahren, heute einen online-Aktionstag, zusammen mit dem Literaturhaus Freiburg, dem Theater im Marienbad, dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg und dem Theater Freiburg. Die Beiträge zu dieser bemerkenswerten Tagung sind online verfügbar über www.katholische-akademie-freiburg.de.

Über die Historie, die Hintergründe und die Bedeutung der GFK möchte ich hier keine weiteren Ausführungen machen; jede/r kann sich dazu im Netz informieren, z.B. unter https://www.fluechtlingskonvention.de/ oder https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/270371/genfer-fluechtlingskonvention

Was leider sehr aus dem Blick der Öffentlichkeit geraten ist und was die Tagung der Katholischen Akademie heute eindrucksvoll und bedrückend herausgestellt hat, sind die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen die GFK durch die EU und ihre einzelnen Mitgliedsstaaten und durch die dafür geschaffene Agentur Frontex. Unter Anwendung von Gewalt und Inkaufnahme massiver Menschenrechtsverletzungen tut die EU alles, um Flüchtlinge von ihren Grenzen fernhalten. Ein wichtiger völkerrechtlicher Grundsatz der GFK ist das Non-Refoulement-Prinzip, das die Zurückweisung von Personen verbietet, die auf der Flucht sind und die bei ihrer Zurückweisung Verfolgung und Folter befürchten müssen. Trotzdem werden diese Zurückschiebungen (Push backs) tagtäglich an den europäischen Außengrenzen praktiziert, im Mittelmeer oder an der Grenze der Türkei zu Griechenland. Griechenland drängt gewaltsam Flüchtlingsboote zurück, die die Überfahrt von der Türkei versuchen. An der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland wurde auf Flüchtlinge, die die Grenze überqueren wollten, geschossen – zwei Flüchtlinge wurden dabei getötet. Die  Menschen, die es schaffen, in Griechenland europäischen Boden zu betreten, werden dort unter menschenunwürdigen Bedingungen in geschlossenen, gefängnisähnlichen Lagern interniert, die schwer bewacht sind und zu denen Journalisten keinen Zugang erhalten. Das alleine ist bereits ein Verstoß gegen die GFK. Die Türkei baut derzeit eine drei Meter hohe und 144 km lange Mauer an der Grenze zu Iran, um Flüchtlinge aus Afghanistan abzuwehren. An der Grenze zu Syrien gibt es bereits eine 826 km lange Mauer.

Mehr als 20.000 Menschen haben beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren und nach Europa zu kommen, seit 2014 ihr Leben verloren. Dass diese Zahlen rückläufig sind, liegt daran, dass Frontex in Zusammenarbeit mit der libyschen  Küstenwache die Flüchtlingsboote aus internationalem Hoheitsgewässer zurückschleppt und die zivile Seenotrettung wie z.B. Seawatch immer mehr behindert und kriminalisiert wird.

Die Liste der Verstöße gegen die GFK und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention ließe sich nahezu endlos fortsetzen. Diese Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und gegen die Menschenwürde werden in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen. Umso mehr ist der Katholischen Akademie für die heutige Tagung zu danken, die gezeigt hat, dass die GFK nicht auf den Müllhaufen der Geschichte gehört, sondern gerade angesichts der beschämenden und illegalen Praxis der europäischen Flüchtlingspolitik mehr denn je ihre Berechtigung hat.

Zum Abschluss ein wenig Logik nach Aristoteles: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Flüchtlinge sind keine Menschen. Also ist die Würde der Flüchtlinge antastbar.


Flüchtlinge aus Moria aufnehmen – Wir haben Platz!

In meiner Wohngemeinde Wittnau bei Freiburg gibt es derzeit leerstehenden Wohnraum, der für die Unterbringung von Flüchtlingen vorgesehen ist. Wir könnten also gut zwei Familien oder vier bis fünf Einzelpersonen aufnehmen und ihnen eine sichere Unterkunft bieten. Viele Kommunen und auch Bundesländer haben in den letzten Wochen ihre Bereitschaft signalisiert, Flüchtlinge aus Griechenland und anderen Ankunftsländern aufzunehmen.

Leider blockiert das Innenministerium unter Horst Seehofer (und mit ihm auch die CDU) diese Aufnahmebereitschaft mit Verweis auf eine notwendige europäische Lösung. Diese europäische Lösung ist sicher notwendig, aber jetzt ist kurzfristig eine humanitäre Lösung für die obdachlos gewordenen Flüchtlinge aus Moria dringend notwendig.

Und jede/r von uns kann persönlich etwas tun: z.B. die Arbeit der Caritas zugunsten der Flüchtlinge mit einer Spende unterstützen.


Europäische Asylpolitik – ein erbärmliches und beschämendes Kapitel

Der Umgang der EU mit Flüchtlingen und Migranten ist beschämend, inhuman, rechtswidrig und menschenverachtend.

Wem dieses Urteil zu hart erscheint, der möge sich anschauen, was auf dem Mittelmeer, auf den griechischen Inseln und an anderen Außengrenzen der EU mit schutzsuchenden Menschen geschieht. Der Internationale Flüchtlingstag am 20. Juni ist Anlass, an das Elend der Flüchtlinge zu erinnern.

Vor knapp zehn Jahren, also lange vor 2015 mit dem rasanten Anstieg der Asylsuchenden in Deutschland und Europa, habe ich in einem Gastbeitrag für die Mittelbayerische Zeitung geschrieben: Immer, wenn aktuelle Entwicklungen wie jetzt in Nordafrika das Drama der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer in den Blickpunkt rücken, reagiert Europa geradezu hysterisch. Aber nicht etwa, weil Menschen beim riskanten Versuch, europäische Außengrenzen zu erreichen, massenweise ertrinken – übrigens eine direkte Folge der europäischen Abschottungspolitik. Nein, man fürchtet einen „Flüchtlingsstrom“ oder gar einen „menschlichen Tsunami“. Europa droht, so der kaum hinterfragte Mythos, eine Invasion asyl- und arbeitsuchender Afrikaner.“

Bereits 2013 hat der Europäische Flüchtlingsrat ECRE in einer Studie festgestellt, dass die europäische Asylpolitik Menschenrechte verletzt. Seitdem ist viel passiert. Aber die Asylpolitik der EU hat sich nicht zum Besseren gewendet. Im Gegenteil. Das Sterben auf dem Mittelmeer ging und geht weiter. Seit 2014 sind mehr als 20.000 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen (Quelle: IOM, UN Organisation für Migration. 2019 sind 1.885 Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer ertrunken.

Zyniker können den Rückgang der Todesopfer auf der Mittelmeerroute als einen Erfolg der europäischen Abschottungspolitik feiern. Die von Hilfsorganisationen organisierte zivile Rettung ist nahezu zum Stillstand gekommen. Seit die Helfer keine Bootsflüchtlinge mehr aufnehmen und an Land bringen können, müssen Flüchtlinge und Migranten, die sich auf die gefährliche Route begeben, tage- und wochenlang auf dem Mittelmeer ausharren. Die Mittelmeerroute ist als Fluchtweg immer mehr zur Todesfalle gefallen, weshalb Immer weniger Menschen versuchen, auf diesem Weg Europa zu erreichen. In Libyen werden sie in Lagern festgehalten, wo Folterungen, Vergewaltigungen und Morde an der Tagesordnung sind. Diese menschenunwürdigen Zustände sind den Verantwortlichen in Europa bekannt. Trotzdem arbeitet die europäische Grenzschutzorganisation Frontex mit der libyschen Küstenwache zusammen und meldet Flüchtlingsboote an die libyschen Behörden. Diese werden abgefangen, die Flüchtlinge wieder in die Lager in Libyen zurückgebracht.

Angesichts dieser Situation mutet es befremdlich an, dass heute (05. Juni 2020) der Bundesrat beschlossen hat, dass die Verunglimpfung der Flagge und der Hymne der EU künftig unter Strafe stehen und mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe geahndet werden. 

Die EU setzt alles daran, ihre Grenzen abzuriegeln. Das geschieht nicht nur über Frontex, sondern auch durch die Sicherung von Grenzabschnitten mit Stacheldrahtzäunen. Um Flüchtlinge davon abzuhalten, überhaupt an die Grenzen Europas zu gelangen, ist sich die EU nicht zu schade, mit autoritären und diktatorischen Regimen zusammenzuarbeiten. Davon steht allerdings nichts in dem offiziellen Factsheet über die Asylpolitik der EU. Dort heißt es: „Durch die Asylpolitik der EU soll jedem Drittstaatsangehörigen, der in einem der Mitgliedstaaten internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status gewährt und die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung sichergestellt werden. Zu diesem Zweck bemüht sich die Europäische Union um die Ausarbeitung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems.“

Das bisher für die Aufnahme von Flüchtlingen gültige Dublin-Verfahren ist den facto außer Kraft. Nach der Dublin III-Verordnung ist der EU-Staat, den ein Flüchtling als erster betritt, verantwortlich für seine Aufnahme und Unterbringung. Es sind also die Staaten an den Außengrenzen der EU wie z.B. Griechenland, Italien, Malta und Spanien, die die Hauptlast zu tragen haben. Mit der Folge, dass sie die Flüchtlinge, sofern sie überhaupt auf europäischen Boden kommen, so schlecht behandeln, dass sie möglichst in andere Staaten weiterfliehen. Die katastrophale Lage der Flüchtlinge in den griechischen Lagern ist hinreichend bekannt, aber die EU ist nicht in der Lage, eine Lösung herbeizuführen. Die aktuelle Praxis zeigt, dass das Dublin-System gescheitert ist. Eine neue, bessere Regelung ist nicht in Sicht. Die EU mit ihren 28 Mitgliedsstaaten und mehr als 500 Millionen Einwohnern versagt jämmerlich und schafft es nicht, ein einheitliches Asylrecht zu schaffen.

Wenn nun Deutschland am 1. Juli turnusgemäß für ein halbes Jahr die Präsidentschaft in der EU übernimmt und gleichzeitig mit Ursula von der Leyen eine Deutsche an der Spitze der EU-Kommission steht, könnten die Zeichen für eine Wende in der Asylpolitik der EU günstig stehen. Zu befürchten ist allerdings, dass die Bewältigung der Corona-Krise alle anderen Themen in den Hintergrund drängen wird. Wolfgang Schäuble (CDU) hat angekündigt, dass unter der deutschen Präsidentschaft im Herbst eine Konferenz zu Migration und Asyl stattfinden soll.

Es wäre also jetzt an der Zeit, Forderungen aus der Zivilgesellschaft für einen humanen und gerechten Umgang mit Asylsuchenden an die Bundestagsabgeordneten und an die Vertreter im Europäischen Parlament heranzutragen, wie z.B.

  • Europaweite einheitliche Standards für die Aufnahme und Unterbringung von Schutzsuchenden
  • Solidarische Verteilung von Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union
  • Zivile Seenotrettung zulassen und nicht kriminalisieren.

Nie wieder Krieg. Wann, wenn nicht jetzt?

Ostern, so will es die Bundesregierung, sollen wir weiterhin zu Hause bleiben. Wir halten uns daran. Ein Osterspaziergang (Vom Eise befreit, und so) ist natürlich erlaubt, aber kein Ostermarsch (hopp hopp hopp, Atomraketen stopp). Also Zeit zum Lesen. Der folgende Text ist längenmäßig zumutbar, inhaltlich herausfordernd und sprachlich passabel. Er wurde mit dem Blablameter (www.blablameter.de ) getestet und erreichte einen Bullshit-Index von 0,26. Das ist relativ gut. Es darf trotzdem Kritik geübt werden.  

Die Coronakrise treibt seltsame Blüten. Verschwörungstheoretiker schwadronieren von einer „Machtergreifung unter dem Deckmantel der Volksgesundheit“, sehen als Verursacher der Pandemie wahlweise 5G-Strahlung, Bill Gates, die Pharmaindustrie, die Strafe Gottes, eine biologische Waffe, die zionistisch-kapitalistische Wasweißich oder die Chinesen. Andere wiegeln ab und meinen, die ganze Geschichte sei doch bloß – in Anlehnung an Bruno Labbadia – „von den Medien hochsterilisiert“. Sterilisieren kann in diesen Zeiten ja nicht schaden. Und gegen das Virus nehme man wahlweise ein Sonnenbad, eine aufgeschnittene Zwiebel oder MMS – zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Bestatter.

Was aber hilft gegen die tiefe Verzweiflung über so viel in den sozialen Medien verbreiteten Schwachsinn außer Zynismus? Mein persönliches Rezept lautet: Mundschutz ja – Maulkorb nein. Warum nicht mal die Welt nach Corona ganz neu denken? Seid realistisch, verlangt das Unmögliche! Wann, wenn nicht jetzt, wo das öffentliche Leben weitgehend zum Stillstand gekommen ist, wäre ein guter Zeitpunkt, Pläne für eine bessere Zukunft nach Corona zu schmieden? Gehe zurück auf Los und versuch´s noch mal, aber besser? Nach dem Motto: „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ (Harald Welzer).

Hier meine unsortierten spontanen Vorschläge, wie wir leben könnten:

Nie wieder Krieg! Wann, wenn nicht jetzt, wäre ein guter Zeitpunkt, alle aktuellen Kriege und Gewaltkonflikte zu beenden (Syrien, Afghanistan, Libyen, Ukraine, Jemen, Mexico, etc.)? Da müsste man ja nicht einmal etwas tun, sondern nur etwas unterlassen. Verlierer wären die Warlords, die Kriegstreiber, die machthungrigen Despoten, die Waffenproduzenten, aber auf die können wir gerne verzichten. Zugegeben, so einfach ist das nicht. Manche Konflikte sind nicht mal eben so aufzulösen (Nahost). Schon einmal hat es einen günstigen Zeitpunkt für „Nie wieder Krieg“ gegeben, nämlich im Frühsommer 1945. Solche Gelegenheiten ergeben sich nicht oft in der Geschichte, also beim Schopf ergreifen!

Den Klimawandel stoppen: Wie das gehen kann, muss ich hier nicht erklären. Das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 war ein guter Ansatz. Jetzt muss gehandelt werden, global, national, lokal, jede/r im persönlichen Verhalten. Wer wissen will, wie es gehen kann, der/die lese das empfehlenswerte Buch von Rainer Grießhammer (siehe meinen vorherigen Blogbeitrag). Jonathan Franzen meint zwar, es sei eh zu spät („Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen“), hält aber klimaschonendes Verhalten dennoch nicht für sinnlos. Die „Fridays for Future“-Generation hat uns daran erinnert, dass es höchste Zeit ist, den Allerwertesten hochzukriegen.

Die Grenzen des Wachstums: Unsere Lebens- und Wirtschaftsweise ist nicht zukunftsfähig (Club of Rome). Stattdessen brauchen wir ein Konzept nachhaltiger Entwicklung. Was das heißt? Qualitatives statt quantitatives Wachstum, Nutzung alternativer Energien, Erhalt der natürlichen Umwelt, Produktion und Konsum umweltverträglich gestalten. Näheres siehe „Ziele für Nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen.

Armut bekämpfen: Zugegeben auch keine kleine Aufgabe, wenn man globale Armutsbekämpfung meint. Trotzdem ist und bleibt der Kampf gegen die Armut ein Gebot der Humanität, weil alle Menschen das Recht auf ein Leben ohne Hunger, ohne Angst, ohne Verfolgung haben.

Eine humane Flüchtlingspolitik: Wenn eine Pfarrerin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (Wort zum Sonntag) sagt: „Mit Verlaub, ich könnte kotzen“, angesichts der europäischen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen, dann muss es wohl Ernst sein. Wir Europäer regen uns über die Mauer von Donald Trump auf, bauen aber selber Zäune und greifen zu Tränengas, um uns Flüchtlinge vom Hals zu halten. Seenotrettung: Fehlanzeige. Stattdessen Millionen für Frontex und die griechische Regierung, die das Asylrecht außer Kraft setzt. Jetzt (9. April) will Deutschland 50 minderjährige Geflüchtete aus den Elendslagern in Griechenland aufnehmen. Was wäre die Steigerung von kotzen?  

Fazit: Ich denke, das reicht für´s Erste. Gesellschaftliche Utopien gäbe es noch mehr. Nun ist das mit den Utopien so eine Sache. Selbst die Philosophen sind sich da nicht einig. Karl Popper hält nichts von utopischen Idealen und schlägt stattdessen vor, reale Probleme zu bekämpfen. Dagegen plädiert Adorno für eine grundsätzlich utopische Haltung: „Empfindsam bleiben ist eine gleichsam utopische Haltung, die Sinne für ein Glück geschärft zu halten, das nicht kommen wird, jedoch uns in Bereitschaft für es vor den ärgsten Verrohungen schützt“. Adornos Texte erreichen übrigens bei Blablameter bessere Werte, als man zu vermuten geneigt ist.

In diesem Sinne: Frohe Ostern!


Wir schaffen das – Wittnau und seine Flüchtlinge

„Wir setzen uns dafür ein, die Flüchtlinge in unserer Gemeinde willkommen zu heißen und ihnen die notwendige Unterstützung und Hilfe bei der Integration und Alltagsbewältigung zu gewähren“ – so der Wortlaut eines Beschlusses des Wittnauer Gemeinderats vom Oktober 2013, zu einem Zeitpunkt, wo das Ausmaß der Fluchtbewegung nach Deutschland und damit auch in unserer kleinen Gemeinde noch gar nicht absehbar war. Wenige Monate später setzte dann mit dem massiven bundesweiten Anstieg der Flüchtlingszahlen und dem umstrittenen „Wir schaffen das“-Zitat der Kanzlerin eine bis heute andauernde, kontroverse gesellschaftliche Debatte um den richtigen Umgang mit der Flüchtlingsproblematik ein. Davon ist auch Wittnau nicht verschont geblieben.
Nehmen wir mal an, der Gemeinderat hat in seinem Beschluss mit „Wir“ uns alle gemeint: Verwaltung, politische Entscheidungsträger, Zivilgesellschaft, Vereine, Nachbarn. Was ist aus dieser Absichtserklärung geworden? Haben wir es geschafft? Für eine abschließende Bilanz mag es noch zu früh sein. Trotzdem kann mit einem gewissen Stolz gesagt werden, dass Wittnau die Herausforderungen gut bewältigt hat. Dazu haben viele Menschen beigetragen.
Wenn es ein erstes positives Fazit aus den vergangenen Jahren gibt, dann vielleicht dieses: Offene fremdenfeindliche Äußerungen und Aktionen sind im Dorf glücklicherweise bisher ausgeblieben, rechtsradikale Strömungen nicht erkennbar. Die AfD erreichte in Wittnau bei den letzten Kreistags- und Europawahlen vier Prozent der Stimmen. Angesichts der Entwicklungen in anderen Regionen der Republik ist das eher beruhigend.
Zunächst zu den Zahlen: 2014 wurden der Gemeinde Wittnau die ersten fünf Flüchtlinge vom Landkreis zugewiesen – zur Anschlussunterbringung, wie es im nüchternen Bürokraten-deutsch hieß. 2015 waren es dann zehn, 2016 dreizehn neue Zuweisungen. Ursprünglich hatte das Landratsamt für 2016 sogar 21 neue Flüchtlinge für Wittnau angekündigt. Im Sommer 2018 war mit 32 in Wittnau lebenden Geflohenen ein Höchststand erreicht. Von 2014 bis heute (Februar 2020) haben insgesamt 48 geflohene Menschen in unserer Gemeinde vorübergehend oder für länger eine neue Heimat gefunden. Dazu zählen auch sechs Neugeborene. Aktuell leben noch 22 Geflohene in Wittnau, davon 14 in von der Gemeinde angemieteten Wohnungen oder bereitgestellten Unterkünften.
Die Verteilung der Flüchtlinge im Landkreis auf die einzelnen Kommunen war von Anfang an von großen Unsicherheiten und ständig wechselnden Zahlen geprägt. 2016 musste Wittnau aufgrund der Ankündigungen aus dem Landratsamt mit bis zu 50 unterzubringenden Flüchtlingen rechnen. Später wurden die Zuteilungsquoten nach unten korrigiert, ohne dass aber für die Gemeinde eine verlässliche Planungsgrundlage gegeben war. Die Folge war, dass der Gemeinderat sich immer wieder neu mit der Frage befassen musste, wie die dauerhafte Unter-bringungen der Flüchtlinge gelöst werden soll. Bauen oder nicht bauen? Wenn ja, wie groß und wo? Nur eine provisorische, vorübergehende Gemeinschaftsunterkunft oder eine lang-fristige Lösung? Zum Glück fanden sich mehrere private Vermieter in Wittnau bereit, Wohnungen für die Unterbringung von Flüchtlingen an die Gemeinde zu vermieten. Das ver-schaffte der Gemeinde Luft, wenn auch in der Regel nur für eine begrenzte Zeit.
Das Thema „Unterbringung von Flüchtlingen“ war spätestens ab 2015 nahezu bei jeder Sitzung des Gemeindesrats auf der Tagesordnung. Dass es keine verlässlichen Zahlen aus dem Landratsamt gab, machte die Diskussion um eine angemessene Lösung zu einem Lotteriespiel. Worauf sollte man setzen? Verschiedene Optionen wurden diskutiert, abgewogen, ver-worfen, erneut ins Spiel gebracht: Aufstellung von Wohncontainern, Umbau des Vereinshauses oder Teilen davon zu Wohnzwecken, Bau eines Wohnhauses auf dem Spielplatz Birkwäldele, Umbau des Untergeschosses im Pfarrgemeindehaus zu Flüchtlingswohnungen, Bau einer Gemeinschaftsunterkunft auf einem noch auszuwählenden Standort.
Nicht vor meiner Haustür? Apropos Standort: Die Diskussion um die geeignete Form der Unterbringung und einen möglichen Standort für eine Baumaßnahme erwies sich als heikel, zäh und kontrovers: Wo immer eine Option ins Gespräch gebracht wurde, formierte sich geradezu reflexartig der Bürgerprotest. Schon im April 2012 protestierten Wittnauer Vereine gegen die geplante Unterbringung von Flüchtlingen im Dreschschopf. Im gleichen Jahr wandten sich Anlieger in einem Schreiben an den Gemeinderat gegen die in Erwägung gezogene Aufstellung von Wohncontainern für Obdachlose und Bedürftige an der Ecke Engelmatte – Brückenstraße. Im April 2015 artikulierte sich heftiger Protest des Verkehrs- und Trachtenvereins gegen den Vorschlag, Vereinsräume für die Unterbringung von Flüchtlingen umzunutzen.
Weiterer Unmut machte sich breit, als im Oktober 2015 der Gemeinderat prüfen wollten, ob der Spielplatz Birkwäldele mit einem Wohnhaus für Flüchtlinge bebaut werden könnte. Eine Versammlung von 45 Anwohnern sprach sich mehrheitlich gegen diesen Plan aus und forderte den Gemeinderat auf, davon Abstand zu nehmen. Der Spielplatz, so hieß es, sei unverzichtbar und werde gut frequentiert.
Ab dem Frühjahr 2016 nahm die Diskussion erneut Fahrt auf, weil der Gemeinderat die Entscheidung für eine Baumaßnahme zunehmend dringlich sah und im Oktober 2016, nach kon-troverser Diskussion, für einen Standort unterhalb des Vereinshauses votierte. Dagegen wandten sich zahlreiche Bürger, insbesondere Anlieger aus der näheren Umgebung, in einzelnen Schreiben und Mails und mittels Unterschriftenlisten. Ihren Höhepunkt erreichte die – teilweise sehr emotional und polemisch geführte – Diskussion dann im Herbst 2017, als es erneut um die angemessene Lösung für die Flüchtlingsunterbringung ging. Die Kontroverse um den pas-senden Standort für ein Wohngebäude und die Errichtung von Wohncontainern auf einer Spielfläche neben den Sportanlagen nahmen Bürger zum Anlass, eine „Wittnauer Initiative für den Erhalt der Spiel- und Freizeitflächen“ zu gründen und gegen die Planungen des Gemeinderats Lobbyarbeit zu machen. Der Gemeinderat, so die Argumentation der Initiative und einzelner Bürger, würde ohne Not Spielflächen der Kinder und Jugendlichen opfern, anstatt andere geeignete Flächen zu wählen. Die Vorwürfe gipfelten in der Aussage, die Entscheidun-gen des Gemeinderates seien von mangelnder Transparenz, Vortäuschung von Objektivität und „Pseudo-Fakten“ geprägt.
Inzwischen hat sich die Lage beruhigt, weil die Entscheidung, ob und falls ja wo Wohnungen für Flüchtlinge gebaut werden sollten, zunächst zurückgestellt ist. Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesem Kapitel Wittnauer Flüchtlingspolitik ziehen? Die Proteste waren immer begleitet von dem Mantra: Auch wir wollen, dass die Flüchtlinge angemessen untergebracht werden. Aber bitte nicht an dieser Stelle, nicht in dieser Form, nicht in dieser Konzentration. Nicht neben der Schule – Gefährdung der Kinder – nicht auf Spielflächen, die fehlen dann unseren Kindern, nicht auf Kosten der Vereine, nicht zu Lasten des Haushalts der Kommune, usw. Als ob die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge zum Nulltarif zu haben wäre! Von wirklichen Einschränkungen der allgemeinen Lebensqualität in Wittnau konnte zu keinem Zeitpunkt die Rede sein.
Der ehrenamtliche Helferkreis: Wittnau gehörte zu den Gemeinden, die schon sehr früh einen ehrenamtlichen Helferkreis hatten. Erste Überlegungen und Kontakte dazu gab es bereits im Januar 2013. Am 9. Mai 2014 traf sich dann erstmals ein kleiner Kreis von interessierten Bürgerinnen und Bürgern und vereinbarte die Gründung eines „Asylhelferkreises“ – später umbenannt in „Arbeitskreis Flüchtlinge Wittnau“. Man hatte sich bewusst gegen eine feste, vereinsähnliche Struktur entschieden. Der Arbeitskreis besteht nun seit fast sechs Jah-ren. Viele Ehrenamtliche haben sich in dieser Zeit auf unterschiedliche Weise eingebracht: Übernahme von Patenschaften für einzelne Flüchtlinge oder Flüchtlingsfamilien, Deutschunterricht, Hilfe bei Behördenkontakten, Organisation von gemeinsamen Aktivitäten, Unterstützung bei Wohnungs- und Arbeitssuche, usw. Von zeitweise bis zu zwanzig Ehrenamtlichen ist heute ein „harter Kern“ von sechs bis acht Personen geblieben, die den Helferkreis am Leben erhalten. Und seit die Gemeindeverwaltung eine Integrationsbeauftragte beschäftigt, zu deren Aufgabenbereich die Flüchtlingsbetreuung gehört, hat sich die Zusammenarbeit zwischen Gemeinde und Helferkreis deutlich verbessert. Als nicht praxistauglich erwiesen hat sich die Idee, einen Integrationsbeirat zu etablieren, eine Art runder Tisch, in dem ein „Austausch und Dialog aller gesellschaftlichen Gruppierungen und Institutionen in Wittnau stattfindet mit dem Ziel, die Aufnahme, Integration und Unterbringung von Flüchtlingen als allgemeine Aufgabe wahrzunehmen und zu fördern“ – nach einem Jahr und fünf Sitzungen wurde das Gremium stillschweigend beendet.
In guter Erinnerung geblieben sind die vielen gemeinsamen Aktivitäten und Veranstaltungen, die der Helferkreis organisierte: Zwei Benefizkonzerte im November 2014 im Gallushaus mit Wittnauer Künstlerinnen und Künstlern und im November 2016 in der Wittnauer Pfarrkirche, die als „Café der Begegnung“ im Pfarrgemeindehaus veranstalteten Nachmittage, gemeinsames Kochen, Grill- und Sommerfeste mit Flüchtlingen und Bürgern und – unvergessen – das Internationale Kulturfest im Gallushaus: Ein tolles Fest mit einem abwechslungsreichen und interessanten Programm – so und ähnlich waren die Rückmeldungen der Besucherinnen und Besucher, die am 9. September 2017 zum Kulturfest des AK Flüchtlinge gekommen waren.
Gelungene Integration: Wie zu Anfang anhand der zahlenmäßigen Entwicklung gezeigt wurde, leben derzeit noch 22 Flüchtlinge in Wittnau, davon 14 in Wohnungen und Unterkünften, die von der Gemeinde bereitgestellt werden. Die meisten Menschen, die als Flüchtlinge kamen und die anfangs auf Sozialhilfe und auf ein Dach über dem Kopf angewiesen waren, können inzwischen ein eigenständiges Leben führen. Sie haben Schulen besucht, Deutsch gelernt, eine Ausbildung begonnen, Arbeit und Wohnung gefunden. Oft waren im Hintergrund Ehrenamtliche des Arbeitskreises Flüchtlinge dabei behilflich und haben vermittelt, beraten, getröstet, wenn es nicht auf Anhieb geklappt hat, auch schon mal mit Geld oder Sachspenden geholfen. Engagierte, aufgeschlossene Bürger in den Vereinen, als Vermieter, Eltern von Schulkindern haben dazu beigetragen, dass die Flüchtlinge sich in Wittnau willkommen fühlen konnten. Einige Flüchtlinge haben den Sprung in die Unabhängigkeit auch ohne fremde Hilfe geschafft. Ob diese Menschen dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen, wird vom Gesetzgeber und von den zuständigen übergeordneten Behörden wie dem BAMF entschieden. Nicht alle haben einen Aufenthaltsstatus, der ihnen Gewissheit über ihre Zukunft in Deutschland gibt. Man kann sich unschwer vorstellen, wie sehr diese Ungewissheit belasten kann.
Die vielen erfreulichen Beispiele von gelungener Integration können nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht alle Geflohenen es geschafft haben, ihr Leben in Deutschland selbstständig und wirtschaftlich gesichert zu gestalten. Sprachschwierigkeiten, Krankheiten, psychische Probleme, fehlendes Durchhaltevermögen bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz – immer wieder scheitern Flüchtlinge an den normalen Anforderungen, die der Lebensalltag mit sich bringt. Dabei ist im Einzelfall schwer zu sagen, ob die Erfahrung von Flucht und Vertreibung ursächlich für mangelnde psychische oder physische Belastbarkeit ist. Es gibt ja auch zunehmend Menschen ohne Migrationshintergrund und Fluchterfahrung, die an den Alltagsanforderungen von Beruf, Familie, usw. scheitern und psychisch erkranken. Und auch das gehört zur Realität: Flüchtlinge, die wenig oder keine Motivation zeigen, von den Transferleistungen, die der deutsche Sozialstaat bietet, unabhängig zu werden.
Damit sind wir mitten in der gesellschaftlichen Debatte darüber, wie sehr wir bereit sind, die Lasten mitzutragen, die durch die Aufnahme von Geflüchteten in unser Gemeinwesen zwangsläufig entstehen. Die Verantwortung dafür, auch die finanzielle, liegt natürlich zunächst beim Bund und bei den Ländern und darf nicht auf die finanzschwachen Kommunen abgeschoben werden. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass die Hauptlast für eine gelingende Integration bei den Kommunen liegt. Sie sind es, die für angemessene Wohnungen, Bereitstel-lung von Plätzen in Kita und Schule, und wo nötig für soziale und psychische Beratung und Hilfe sorgen müssen. Man muss nach den Erfahrungen davon ausgehen, dass ein gewisser Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund von der Solidargemeinschaft mitgetragen werden muss.
Die Flüchtlingszahlen sind, was Deutschland anbetrifft, rückläufig. Nicht etwa, weil es weniger Flüchtlinge gäbe. Die täglichen Nachrichten aus Syrien, aus der Türkei, aus Griechenland zeigen, wie dramatisch die Lage der Flüchtlinge an den Grenzen Europas ist. Die komplette Abschottung der EU gegen eine weitere Zuwanderung von Bürgerkriegs- und Klimaflücht-lingen ist ethisch fragwürdig und politisch auf Dauer kaum durchzuhalten. Auf eine humane europäische Einwanderungspolitik wird man wohl noch lange warten müssen. Deutschland nimmt weiterhin Flüchtlinge auf, wenn auch viel weniger als noch 2015 und 2016. Für Wittnau bedeutet das, dass auch weiterhin die Zusage Bestand haben sollte: „Wir setzen uns dafür ein, die Flüchtlinge in unserer Gemeinde willkommen zu heißen und ihnen die notwendige Unterstützung und Hilfe bei der Integration und Alltagsbewältigung zu gewähren“.

Jürgen Lieser Februar 2020